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Jane sagte dann, dass sie keine Maschinenstürmer seien, aber sie schauderte doch jedes Mal. Nicht, weil ihr Vater sich immer bekreuzigt hatte, wenn von den Ludditen die Rede war, sondern weil sie schon als kleines Mädchen schreckliche Geschichten von diesen verzweifelten Fanatikern gehört hatte. Von dem Mann, der eine haushohe Maschine dadurch zerstörte, dass er seinen Arm in ihr Räderwerk schob. Von Frauen, die ihre Kinder …

Das war nicht ihr Weg. Sie war keine Märtyrerin.

Als besonders schwierig erwiesen sich die konkreten Zahlen. So war es etwa für eine einfache Kohleschlepperin unmöglich zu erfahren, wie viele Leute überhaupt im Berg arbeiteten, wer wo eingesetzt war. Wie breit der Schacht, wie hoch die einzelnen Strecken, Förderstollen waren, wie schwer die Hunde, im Durchschnitt.

Den Ausbau konnte sie zählen und hochrechnen. Eine fast universelle Maßeinheit wurde ihr Sohn. Ben konnte im Dunkeln sehen, lief durch alle Gänge, kroch in alle Stollen, wurde immer wieder verjagt – Scheiß woanders, du kleiner Bastard! – und konnte sich Höhe und Breite doch immer bis zum Ende der Schicht merken.

»Ich und eine Hand hoch. Zwei Arme breit. Ich, auf Händen und Knien, stoße oben an.«

Ben maß auf Händen und Knien sechsundvierzig Zentimeter. Jane »eichte ihn« jeden Abend mit Mutter Irvines Maßband, und sie hatten viel Spaß dabei. Für ihn war überhaupt alles ein merkwürdiges Spiel, und sie ließ ihn in diesem Glauben. Er war ihr Werkzeug. Auch als es um Daten und Fakten ging, die er ihr mit seinem Körper nicht mehr beschaffen konnte.

Sie hatte den Ingenieur Nelson in den drei Jahren nur ein einziges Mal besucht, um ihn um Geld zu bitten für ihren Sohn. Er hatte es ihr sehr unwillig gegeben, und obwohl es lange zurückgezahlt war, sah er Jane misstrauisch an, als sie, Ben an der Hand, vor seiner Tür stand.

»Ja?«

»Das ist Ben«, sagte sie und schob den Jungen nach vorn. »Er ist jetzt sechs Jahre alt und fragt nach seinem Vater. Nach seiner Arbeit. Nach seinem Tod. Ich habe gesagt, Sie wären sein Freund gewesen und würden es ihm erklären.«

Der Ingenieur wollte diese Zumutung schon zurückweisen, als er in die Augen des Jungen sah, der ihn ruhig und ohne Angst anblickte. Es war der Blick des jungen schottischen Kohlehauers, der ihm das Leben gerettet hatte, in den Minen von Dunbar. Als ganze Berge in Bewegung waren, als die Erde zitterte, die Menschen nur noch nach oben drängten, einander wie rasend aus den Förderkörben stießen, da war dieser Mann abgestiegen in den untersten Schacht, wo der Ingenieur mit zerquetschtem Bein unter einer Tonne Gestein in der Dunkelheit lag. Nicht mehr um Hilfe schrie, nur noch in Unverständnis und Angst wie ein blindes Tier seinen eigenen Tod beheulte, bis er das kleine Licht auf sich zukommen sah.

Von dem langen Weg nach oben, auf dem Rücken des Hauers, erinnerte Nelson nur wenig; das Gebrüll der Verschütteten von weit her, das Zittern der Wände, den Staub, den sie ausatmeten, die Schmerzen in seinem Bein. Und es war nicht die ungeheure Kraft des Mannes gewesen, nicht seine Worte, nur die gelassene Ruhe in seinen Augen, die dem Ingenieur mitten im tobenden Chaos versichert hatte, dass er leben würde.

»Kommen Sie doch herein«, sagte er und holte Karten, Pläne, Zeichnungen hervor. Und was Jane sich nicht merken konnte, merkte sich Ben.

70.

Selbst die Zudringlichkeiten des jungen Peters machte sie sich zunutze. Er merkte bald, dass Jane zugänglicher war, wenn er bestimmte Fragen beantwortete, etwa nach der Zahl der Ponys in den oberen Sohlen und anderen Dingen, die er nach seinen zehn Jahren überall im Berg einfach besser wusste als sie. Dann durfte er sie anfassen, einmal sogar küssen.

Jane merkte dabei zu ihrem Entsetzen, dass ihr Körper auf seine ungeschickten Zärtlichkeiten reagierte, solange die Annäherungsversuche nicht allzu rau wurden. Der Junge war nicht hässlich, und er war auch nicht böse. Und Jane war erst dreiundzwanzig Jahre alt.

John war seit drei Jahren tot.

»Tu ihm doch den Gefallen«, hatte Beth gesagt, und nun war sie schon einige Male drauf und dran gewesen, diesen Rat zu befolgen. Es war jedenfalls nur noch ihr Kopf, der sich dagegen wehrte.

Als sie schon so viel gesammelt hatte, dass sie daran denken konnte, ihr Wissen zu systematisieren, als sogar schon die ersten Sätze einer Petition in ihr arbeiteten, sagte Beth eines Tages: »Sie reden über dich, im Berg und im Dorf. Sie fragen sich, warum du mit so vielen Leuten sprichst und was du alles wissen willst. Du musst vorsichtiger sein.«

»Warum vorsichtig?«, fragte Jane naiv. Nachdem sie so lange mit den Bergleuten gelebt und gearbeitet hatte, hielt sie sich für eine der ihren und konnte sich nicht vorstellen, dass sie in den meisten der kleinen Häuser immer noch als die Pfarrerstochter galt, ja, dass einige Leute sogar glaubten, sie könne ihre Arbeit im Berg jederzeit aufgeben und zu ihrer Familie zurückkehren.

Da sie schreiben und lesen konnte, war der harmloseste Verdacht der, dass sie vielleicht ein Buch schreiben würde, aber schon dieser Gedanke reichte für erheblichen Unwillen aus. Die Menschen sahen sich als zoologische Objekte, und obwohl kein einziges Wort fiel, fingen einige an, sie ganz offen zu schneiden.

Jane glaubte zuerst, dass die Grubenherren und ihre Spitzel von ihrem Plan Wind bekommen hätten, merkte aber schließlich am eigenartigen Verhalten ihres jungen Verehrers, dass jemand ganz anderes dahintersteckte und offenbar gezielt das Gerücht ausstreute, sie sei einer dieser Spitzel. Und weil von da an niemand mehr mit ihr redete, tat sie genau das, was sie ursprünglich so gefürchtet hatte und um jeden Preis vermeiden wollte: Sie richtete es so ein, dass sie mit dem Hauer allein blieb. Schickte Beth mit den Kindern die Strecke hinauf und kroch zu ihm in den Flöz.

»Tom? Tom Peters?«

»Was willst du?«

»Mit dir reden.«

»Ich arbeite.«

»Sei lieb. Komm herunter!«

Seine zuletzt fast wütenden Schläge erstarben, als sie ihn am Bein berührte. Dann rutschte er ihr nach, hockte nackt vor ihr im Stollen. Schweißtropfen zogen schmale weiße Bahnen über seinen Körper. Ohne ein Wort und wilder, als sie wollte, küsste sie ihn auf den Mund. Für Sekunden erschrak er, erstarrte, dann siegte sein Verlangen nach ihr.

71.

Tom Peters hatte von ihr geträumt, seit er dreizehn war. Seit er Wand an Wand mit ihr schlief und das auch wusste, weil er ihre Bewegungen, ihren Atem, die Geräusche beim Umdrehen von denen ihres Mannes, dieses Riesen, deutlich zu unterscheiden vermochte. Er hatte morgens und abends sogar die Stelle an der Wand geküsst, von der er annahm, dass ihr Kopf daran lag, nur wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt. Und er hatte ihr tiefes leises Stöhnen gehört, wenn sie in den Armen des anderen Mannes lag.

Bei John hatte sie sich stets sicher gefühlt, sosehr sie sich ihm auch hingab. Die Erinnerung an seine Zärtlichkeiten hatte ihr qualvolle Nächte bereitet. Sie hatte befürchtet, diese Erinnerungen zu verlieren, aber sie wurden nur stärker in ihr. Dieser achtzehnjährige Junge konnte nur ihren Körper befriedigen.

Als seine Bewegungen zu heftig wurden, seine Berührungen zu hart, sagte sie: »Warte!«, und: »Langsam!« Wand sich und drehte sich, holte tief Luft und küsste ihn so lange auf den Mund, bis er stillhielt und endlich begriff, was sie wollte. Keuchend vor Erregung drehte er sich auf den Rücken. Jane hockte sich auf ihn, über ihn. Ihr Kopf sagte, dass er danach mit ihr reden würde. Ihr Körper gab sich seinen Erinnerungen hin.

»Da war einer aus Blaydon«, sagte er später, als er mehr verwirrt als erschöpft von der Befriedigung seiner Träume in dem engen Gang hockte. »Der hat nach dir gefragt, wer du bist, was du sagst. Und dass wir besser nicht mit dir reden sollen.«

»Wer war das? Kennst du den?« Jane wusch sich mit dem Wasser aus seiner Feldflasche, vor seinen Augen, und als sie sah, dass seine Erregung dabei wieder wuchs, wusste sie, dass er sie nicht belügen würde.