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»Union«, sagte er leise, und wäre sie wirklich die Spionin gewesen, für die er sie trotz allem noch hielt, er hätte sich mit dieser Antwort völlig in ihre Hand gegeben. Auch das wusste Jane, und er tat ihr nur noch leid. Sie zog ihre Hose an, die Schuhe.

Im nächsten Moment hätte sie sein Gesicht in beide Hände genommen. »Ich bin kein Spitzel, Tom. Sag das allen!«, wollte sie sagen, hätte sie gesagt, aber von oben, den Gang herunter, näherte sich ein Schlurfen, Rutschen, das unmöglich von Beth und den Kindern herrühren konnte. Eine Lampe blitzte auf, viel stärker, heller als die übliche Davy, mit Spiegeln verstärkt, man sprach jetzt sehr viel davon. Und eine Stimme ertönte: »Jane Williams!«

Jane, geblendet von dem plötzlichen Licht und immer noch an ihrem Gürtel nestelnd, fragte verstört: »Was ist?«

»Mitkommen!«, befahl die Stimme, die keine Widerworte duldete.

»Wohin?«

»Raus. Nach oben!«

»Und wer macht ihre Arbeit?«, fragte Tom Peters.

Das Licht glitt über den nackten Jungen, der den Einspruch gewagt hatte, und der Mann sagte böse, belustigt: »Welche Arbeit?« Und zu Jane: »Komm schon! Und nimm deine Sachen mit!«

Auf allen vieren folgte Jane dem Obersteiger, hoch, zum letzten Mal den engen Stollen hinauf.

»Was ist mit meinem Jungen?«, fragte sie und nahm Bens Hand, als sie oben waren. Ihr war kalt geworden in den wenigen letzten Minuten, sie zitterte. Ben war ganz ruhig, seine Hand blieb warm.

»Nimm ihn mit, lass ihn hier, schmeiß ihn in den Schacht!«, knurrte der Mann unwillig, der sich auch in der Hauptstrecke nicht einmal halb aufrichten konnte und schon wieder ein paar Schritte voraus war. Und Jane folgte ihm, den stillen Jungen an ihrer Hand, obwohl sie das Gesicht des Mannes noch immer nicht gesehen hatte.

Beth, Mary-Ann und die alten Männer sahen ihnen nach. Es geschah sehr selten, dass jemand aus dem Berg herausgerufen wurde, und es bedeutete nie etwas Gutes.

»Abkehr«, murmelte einer.

»Dafür das Getue?«, erwiderte ein anderer.

Dann nahmen sie ohne ein weiteres Wort ihre schwere Arbeit wieder auf.

72.

»Sagen Sie mir ja nicht, was Sie herausgefunden haben. Ich mag es gern, wenn ich keine Ahnung habe, worum es eigentlich geht!«

Nachdem Gowers auch zwei Stunden nach seiner Rückkehr noch nichts anderes getan hatte, als auf seiner Koje zu liegen und Rauchwolken an die Decke zu blasen, wurde Van Helmont allmählich sarkastisch.

»Entschuldigung, Doc, aber ich habe nicht viel herausgefunden. Und selbst das wenige verwirrt mich.« Er strich über das Buch, das auf seiner Brust lag, und lächelte. »Als würde man in den Traum von jemand anderem geraten.«

»Was?«

»Alice im Wunderland. Als würde man in den Traum von jemand anderem geraten.«

»Werden Sie jetzt poetisch statt rätselhaft?«

»Nein. Oder beides. Das ist aus einer Kritik im Spectator. Kennen Sie Alice im Wunderland?« Gowers reichte ihm das Buch, und wie nicht anders zu erwarten, blätterte der Arzt umso gespannter, je weniger er die Illustrationen von Sir John Tenniel verstand.

»Nur den Titel«, brummte Van Helmont. »Stand schließlich in allen Gazetten, gleich hinter Unser Vetter aus Amerika8. Demnach ein ziemlicher Erfolg.«

Gowers hatte sich längst abgewöhnt, auf die verklausulierten Beleidigungen und Provokationen des Südstaatlers einzugehen. »Ausgesprochen erfolgreich, ja. Obwohl es keine wirkliche Geschichte erzählt. Jedenfalls keine, die einen Sinn ergibt. Und genau das ist der Sinn.«

Der Arzt warfihm einen zweifelnden Blick zu, sagte: »Aha!« und blätterte verständnislos weiter.

Gowers gab jedoch noch nicht auf. »Jede Figur darin folgt einer Logik, ganz strikt, ohne Abstriche. Aber jede folgt einer eigenen Logik. Das macht das Ganze natürlich ziemlich unlogisch.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Van Helmont, als wollte er einen Irren beruhigen. Dann fiel sein Blick auf das Porträt des verrückten Hutmachers. »Und wer ist das?«, fragte er, mit dem Finger im Buch.

»Mad Hatter«, sagte Gowers. »Meine Lieblingsfigur. Spezialist für Rätsel ohne Lösung. Das heißt, er gibt Ihnen Rätsel auf, deren Lösung er selbst nicht kennt.«

»Und macht er es sich da nicht ziemlich leicht?« Van Helmont warf dem Investigator einen vielsagenden Blick zu.

»Er erzählt auch Geschichten, die er nie zu Ende bekommt, weil ihn ständig jemand unterbricht«, erwiderte Gowers grinsend. »Und er sitzt sein Leben lang beim Fünf-Uhr-Tee, weil just zu dieser Zeit seine Uhr stehen geblieben ist.«

»Für einen Engländer vermutlich ein völlig logisches Verhalten!« Van Helmont klappte das Buch zu. »Aber auf die Gefahr hin, die Geschichte unnötig zu verlängern: Was hat das alles mit zwei Morden, drei Indern und einem Schiffsbrand zu tun?«

Dem Arzt war anzusehen, dass er allmählich nicht mehr zu Späßen oder feinsinnigen Andeutungen aufgelegt war. Gowers schwang deshalb seine Beine aus der Koje und beschloss, ihm das Eindeutigste zu geben, was er vorzuweisen hatte.

»In Bezug auf unsere Inder ist das tatsächlich alles: eine Kritik zu Alice in einer der Zeitungen, die in ihrer Kabine liegen, und das Buch selbst – das sie vermutlich schon vermissen werden. Aber was ich eigentlich sagen wollte …«

»Sie meinen, Sie sagen erst stundenlang gar nichts und anschließend nicht das, was Sie sagen wollen? Dagegen sollten Sie aber mal was unternehmen, mein Junge!«

Gowers sah mit Freude, dass der Arzt dabei war, seinen speziellen Sinn für Humor wiederzufinden, und machte es noch einmal spannend.

»In mehreren Ausgaben von Punch und Times stand etwas über einen unserer anderen Bekannten …«

Van Helmont machte sich gar nicht erst die Mühe, nach dem Namen zu fragen, weil er wusste, dass das seine Qual nur verlängern würde. Und gerade als er sich wieder zu ärgern begann, sagte Gowers promt: »Eden. Die Aktivitäten seiner Lordschaft führten demnach in Cambridge zu einem recht heiklen Skandal.«

»Jungen«, sagte der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen.

»Minderjährige, ja«, bestätigte Gowers.

»Ich dachte, dergleichen wäre in englischen Erziehungsinstituten kein wirklicher Skandal.«

»Nicht, wenn alle Beteiligten am Leben bleiben, nein. Aber in diesem Fall ging es um Selbstmord, um ein paar ziemlich belastende Briefe und eine sehr konkrete Prozessandrohung.«

Van Helmont angelte mit neu erwachendem Interesse eine Havanna aus Gowers’ leerer und leerer werdender Zigarrenkiste und resümierte: »Sie haben also jetzt einen mutmaßlichen indischen Mädchenentführer, einen erprobten englischen Knabenschänder und zwei tote ältere Herren.«

»Einen Briten und einen Franzosen«, sagte Gowers seufzend, fing sich aber wieder, ehe Van Helmont eine ironische Bemerkung über seine offenkundige Resignation loswerden konnte. »Sobald wir wieder auf See sind, werde ich zumindest diesen Inder zum Reden bringen!«

»Und wie?«, fragte der Arzt, der seine spitze Zunge einfach nicht im Zaum halten konnte. »Wollen Sie seine Hose anzünden?«

»Nein«, erwiderte Gowers. »Ich denke, ich werde ihm zufällig an Deck begegnen und einfach sagen: All in the golden afternoon/Full leisurely we glide…«9

Van Helmont bedachte ihn wieder mit einem Blick, den man zweifelnd oder aber medizinisch interessiert nennen konnte, und sagte nach einer Weile: »Vielleicht macht er Ihnen ja daraufhin einen Antrag. Dann könnte Eden der Brautführer sein.«

Nun war es an Gowers, seinen Ärger offen zu zeigen. »Ihre Bemerkungen werden allmählich böse, Doc!«