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»So?«, sagte der Arzt. »Ich gebe mir ja auch alle Mühe.«

73.

»Mrs. Williams?« Es war Ingenieur Nelson, der sie ins Büro des Reviersteigers geführt hatte. »Darf ich Ihnen Mr. Hollister vorstellen, Mr. Burdette, Mr. Charlton.«

Jane ärgerte sich, dass sie den Grubenherren in diesem Zustand vorgeführt wurde, direkt aus dem Berg heraus, zu verdreckt, um ihnen die Hand hinzuhalten. Sie kam sich schmutzig und fehl am Platz vor, wie eine Bettlerin im Herrenhaus, und genau das war auch die Absicht der Herren gewesen, als sie sie rufen ließen.

Es wunderte eigentlich nur den Ingenieur. Er hatte den Minenbesitzern gleich nach Johns Tod den Vorschlag gemacht, Jane, Mrs. Williams, könnte die Kinder der Bergleute unterrichten, die jüngeren sowieso und die älteren nach Schichtende, aber er hatte nicht einmal eine Antwort erhalten. Erst als er insistierte, dass eine bessere Ausbildung, vor allem im Rechnen, letztlich auch bessere Ergebnisse in der Ausbeutung der Gruben herbeiführen könnte, neue Ideen, wer weiß, vielleicht sogar Erfindungen, hatte man ihm bedeutet, dass seine Aufgabe das Abteufen neuer Schächte sei – und nichts weiter.

Deshalb war er einigermaßen verblüfft, als ihn jetzt, drei Jahre später, Burdette auf ebendiesen Gedanken angesprochen hatte. Diese Kerle haben schon ein verdammt gutes Gedächtnis, dachte er. Und es stimmte. Die Grubenherren vergaßen nie etwas. Niemandem.

Diese Männer waren keine Unmenschen, nicht die Monster, als die eine andere Zeit sie hinstellte. Aber sie konnten rechnen. Natürlich machte es ihnen keinen Spaß, sechsjährige Kinder in die Minen zu schicken, aber jede andere Lösung – Galloways, Ponys oder erwachsene Menschen – hätte bedeutet, dass man auch die Höhe der Nebenstrecken um mindestens einen Meter vergrößern musste. So hohe Strecken hätten aber einen verstärkten Ausbau nach sich gezogen, Arbeitskräfte gebunden, Zeit gekostet – und das alles, ohne dass sich der Abbau vor Ort dadurch erhöht hätte.

Nein, die Kinder waren im Verhältnis von Preis zu Leistung ganz einfach billiger. Es war billiger, pro Jahr und Grube fünf bis zehn Menschen durch Schlagwetterexplosionen zu verlieren als auch nur einen einzigen Wetterschacht niederzubringen.

Das war keine Bosheit. Das war Ökonomie. Und letztlich: Wer zwang denn die Leute, Frauen und Kinder, in den Minen zu arbeiten? Niemand. Wer arbeiten wollte, für den fand sich Arbeit. Wer gehen wollte, den hielt man nicht. Es gab genug Menschen für den Berg. Mehr, als man brauchte. Und natürlich wirkte sich das auf die Löhne aus. Warum einem Mann einen Shilling zahlen, wenn ein anderer die Arbeit für einen halben tat?

So war alles nur eine große Rechnung, die am Ende aufgehen musste, manchmal sehr einfach, manchmal etwas komplizierter, mit einigen Unbekannten. Jane Williams war eine solche Unbekannte. Man wusste, dass sie Informationen sammelte, über die Arbeitsbedingungen in den Gruben am Tyne. Aber warum tat sie das?

Sie gehörte nicht zu den Unionisten, man kannte die Unionisten, beobachtete sie. Einige warf man hinaus, mit anderen arbeitete man zusammen, um das Ganze unter Kontrolle zu halten. Denn Entwicklungen, die man nicht verhindern kann, sollte man steuern können. Und tatsächlich war der erste Hinweis auf Jane Williams aus den Kreisen der Union gekommen.

Als sie vor ihnen stand, da bewegte diese gut gekleideten, satten, ruhigen, kühl kalkulierenden Grubenherren nur eine Frage: Welchen Einfluss kann dieses schmutzige kleine Wesen mit der riesigen Nase und seinem verdreckten Balg an der Hand auf unsere Bilanzen haben?

Sie waren gebildete Männer. Sie wussten, dass in der Geschichte manchmal die unbedeutendsten, die lächerlichsten Ursachen ungeahnte Wirkungen entfalten konnten. War Jane Williams so eine Ursache? Konnte diese winzige Zahl, weit hinter jedem Komma, ihre Rechnungen verfälschen? Sollte man Jane Williams verhindern oder steuern?

Mit dem Vorschlag dieses sentimentalen Ingenieurs ließe sich glücklicherweise beides tun, je nach Bedarf. Also machten die Gentlemen ihr das Angebot, von dem sie geträumt hatte, seit sie ihr Elternhaus verließ, um mit John zu gehen. An das sie sich geklammert hatte, nach seinem Tod. Und war es nicht auch ein erster Schritt in die Richtung, die sie und Beth und so viele andere anstrebten? Eines der Ziele, von denen sie träumten?

Jane war nicht so naiv. Sie wusste, dass sie gekauft werden sollte, dass sie nur deshalb direkt aus dem Berg geholt worden war, mit schwarzen, schmierigen Kleidern und Haaren vor diesen Männern stand, um die ihr erwiesene Gnade deutlicher zu spüren. Und sie glaubte den schönen Worten nicht.

Aber trotzdem konnte sie nicht verhindern und erreichten die klugen Rechner, dass der kleine Vogel Hoffnung aufflog in ihrer Brust, dass sie wieder den Himmel über sich sah, mit einem Platz darin. Nicht für sie, aber für ihren Jungen.

74.

Die Northumberland überquerte den Äquator fast genau am vierzigsten Längengrad. Kein Vermessungsingenieur hätte eine geradere Linie durch den Ozean ziehen können als Kapitän Radcliffe zwischen Britisch-Guayana und St. Helena. Das Wetter begünstigte seine Bemühungen, und da ein stetiger Wind wehte, spürte man auch die Hitze nicht in unerträglichem Maß.

Die Einzigen, die davon ohnehin nicht berührt wurden, waren die bedauernswerten Kinder des Missionars Parker, drei Mädchen, zwei Jungen. Sie trugen ihre schlichten schwarzen Anzüge oder Kleider so unveränderlich, als wären sie angewachsen und als sei es ganz gleich, wohin in der Welt Gott und Vater sie aussenden würden. Sie hätten am Nordpol nicht mehr getragen und trugen am Äquator nicht weniger. Aber obwohl sie ihr Leben der Bekehrung von Heiden gewidmet hatten, hatten sie eine derartige Taufe noch nicht gesehen.

Von den rund tausend Menschen an Bord hatten weit mehr als die Hälfte noch nie jene unsichtbare Linie überschritten, von der an die Erde auf dem Kopf steht, die See kocht und die Matrosen schwarz werden und bleiben müssen bis ans Ende ihrer Tage – wie ihre Vorfahren glaubten. Niemand wusste, wie alt das Ritual war, mit dem hier die erfahrenen die unerfahrenen Seeleute begrüßten, nur, dass es keine Regeln gab und dass jegliche Ordnung aufgehoben wurde, war allgemein bekannt.

Der kleinste Vortoppmann, der schon »jenseits« gewesen war, durfte jedem, der das nicht von sich sagen konnte, ungestraft die Südhalbkugel unter die Nase reiben, seien es nun Offiziere oder Mannschaften. Anfangs ein zweifellos harmloser Spaß, bei dem selbst Lords der Admiralität ihren Eimer Wasser über den Kopf bekamen, war die Äquatortaufe jedoch allmählich zu einer so derben Quälerei der »Heiden« geworden, dass man sie schließlich auf Mannschaft und Vorschiff beschränken musste.

Obwohl also die Passagiere von dem Schauspiel ausgenommen blieben – bis auf einige Füsiliere, die sich freiwillig gemeldet hatten, um vor den »Wasserratten« nicht als Feiglinge dazustehen –, nahmen doch nahezu alle diese willkommene Unterbrechung der inzwischen recht eintönigen Seereise wahr und strömten als Publikum zusammen.

Die Täuflinge wurden gegen mehr oder minder geringen Widerstand bis auf die Wäsche entkleidet, auf Deck festgehalten und dabei so kräftig von allen Seiten mit Wassergüssen eingedeckt, dass nicht Faden noch Haar trocken blieben. Derart gewaschen glaubten einige sich bereits genügend eingeführt und fielen ihrerseits über ihre noch ungetauften Kameraden her, bis eine hin und her wogende Wasserschlacht entstand, in der dann auch schon kameradschaftlich einige Fäuste flogen und Blutstropfen vergossen wurden.

Über den schwächsten Opfern wurde anschließend Scheuerseife ausgeschüttet, und ein paar Matrosen stürzten sich mit Bürsten und Putzwolle auf die Unglücklichen, die nun kaum noch die Augen offen halten konnten, weil Seife und Salzwasser darin brannten. Dem Süden sauber entgegentreten hieß die Parole. Und während die Stimmung dergestalt ihren Höhepunkt erreichte, erhob sich Neptun persönlich aus dem Meer, beziehungsweise stieg über die Bordwand.