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Das Getümmel erstarb kurzfristig, die Männer johlten und klatschten begeistert, auch die meisten Zuschauer lachten, die Männer feixend, die Frauen und Mädchen ungläubig, staunend; nur Reverend Parker hatte seine gottesfürchtige kleine Herde sofort unter Deck getrieben, als der heidnische Gott aufgetaucht war. Neptun war völlig nackt, nur der Kopf, Gesicht und Haare waren mit Teer, Tang und undefinierbaren Stoffstreifen unkenntlich gemacht, sodass selbst die Seeleute nicht wussten, welcher der ihren die ungeheure Frechheit besaß, in diesem Aufzug vor aller Augen und in jeder Hinsicht herumzuhüpfen.

Gowers und Van Helmont hatten eine gewisse Vermutung, aber erst als Neptun einem sechseinhalb Fuß großen Gefreiten der 16. Füsiliere, den vier Männer kaum am Boden zu halten vermochten, auf den Bauch sprang und in den Oberschenkel biss, sahen sie sich bestätigt. Auch George Barclay glaubte plötzlich, sich einmal mehr in Lord Edens Kabine zu befinden.

Er lag auf dem Bauch, spuckte Salzwasser aus wie eine Brunnenfigur und war blind vor Seife, als er spürte, dass jemand seine Hose bis auf die Knöchel herunterzerrte. Nur das Gelächter der Umstehenden verriet ihm, dass dies am hellen Tag und vor aller Augen geschah, und er wehrte sich wie wild, was den Anblick für seine Peiniger und ihre Zuschauer nur noch ergötzlicher machte.

Die Seeleute schrien vor Lachen, als George in seiner Verzweiflung die Hose halbwegs wieder hochgezogen hatte und dabei den Stiel von Neptuns Dreizack zwischen den Beinen fühlte, den der Gott des Meeres dort in die Deckplanken gesteckt hatte. Und noch der dümmste Maat glaubte, er allein habe diese geistreiche Andeutung verstanden, und gönnte dem Schiffsjungen die Schande von Herzen.

75.

Seit Mary-Ann Blut hustete, schlief Jane in der Mitte, zwischen den Kindern. Zuerst hatte sie gehofft, Beth würde das Mädchen wieder nehmen, aber Beth hatte nicht verstanden, dass dieser Husten keine Erkältung war und auch nichts mit dem überall eindringenden schwarzen Staub zu tun hatte. Stattdessen hatte sie ihre Tochter mehrfach scharf zurechtgewiesen und ihr einmal, mitten in der Nacht, sogar eine Tracht Prügel verabreicht.

»Reiß dich gefälligst zusammen! Du hältst uns alle nur wach!«

Seitdem spürte, hörte Jane manchmal, dass das Kind den Atem anhielt und mit den Zähnen knirschte in seiner Qual. Sie streichelte ihr dann den Rücken mit langsamen, ruhigen Bewegungen, die sie ablenken, einschläfern sollten, und manchmal gelang das auch. Aber ihr Rücken war immer feucht, beinahe nass vor Schweiß, so sehr kämpfte der kleine Körper gegen einen gnadenlosen Feind.

Die Blutflecken auf dem Laken versuchte das Mädchen zuerst zu verstecken, dann weinte sie vor Scham. Beth wollte sie schon ausschimpfen, als sie das Entsetzen in den Augen ihrer Mutter sah. Sie ließ einen Arzt kommen, der Mary-Ann untersuchte, ihnen aber nicht mehr als den griechischen Namen der Krankheit – Phthisis – sagen konnte. Als er sich weigerte, Geld für die Untersuchung zu nehmen, weinte auch Beth. Das war ein Todesurteil in dieser Welt.

Tatsächlich verfiel das Mädchen sehr schnell, ihr schönes rotes Haar wurde stumpf, dafür glänzten die Augen tief in den Höhlen. Alle Gelenke traten dick hervor, wie bei einem ganz jungen Fohlen, und sie war bald so leicht, dass sogar Jane sie mühelos aus dem Bett heben und waschen konnte, wenn Beth einfuhr und Mutter Irvine nähte.

Mary-Ann zu waschen, zu pflegen machte ihr nichts aus. Nur der blutige Auswurf ekelte sie, und nachts drehte sie dem sterbenden Kind den Rücken zu, schützte ihren Jungen, so gut es ging, mit ihrem Körper vor dem Atem der Kranken. Sie lag im Dunkeln und lauschte auf das Rasseln aus der todwunden kleinen Lunge, wünschte, es würde aufhören – und weinte, weil sie das wünschte.

Tagsüber las Jane den Kindern vor, brachte ihnen auch die Buchstaben bei, aber davon wollte Mary-Ann nicht viel wissen. Umso gespannter war sie bei den Geschichten. Jane las aus der Bibel und aus den Canterbury Tales, wobei sie manches natürlich ausließ. Als sie las: Dieses Mädchen hatte vierzehn Lenze gesehen, und wie die Natur die Lilien weiß und die Rosen rot macht, so hatte die Sonne ihre Locken mit den Strahlen ihrer Glut gefärbt – da fragte Mary-Ann: »Was sind Lenze?«

»Frühlinge«, antwortete Jane.

»Frühlinge«, wiederholte das Mädchen und sprach danach nicht mehr. Nie mehr.

Als Beth heimkam, konnte sie nicht einmal trauern, ihr Kind umarmen, seine Hand nehmen, ohne sich vorher zu waschen. Sie kniete vor dem Bett, ein schwarzes, ratloses Tier. Dann legte sie den Kopf zurück, krallte beide Hände in ihren Nacken, und die Tränen liefen in ihren weit geöffneten Mund. Als Jane ihr beistehen wollte, stieß sie sie zurück.

»Raus«, flüsterte sie. »Bitte! Geht raus.«

Draußen regnete es.

Am nächsten Tag, als Beth von ihrer Tochter Abschied genommen hatte und zur Arbeit gegangen war, sagte Mutter Irvine: »Wenn etwas geschehen soll, muss es bald geschehen.«

»Ich weiß«, antwortete Jane. »Aber ich muss dazu nach London.«

Das tote Mädchen lag noch in ihrem, in Johns Bett. Sie hatte mit Ben auf dem Boden geschlafen, die eine Nacht. Draußen hielt der Wagen des Totengräbers.

»Ich habe dreißig Shilling«, sagte die alte Frau hart und ernst. »Wie viel brauchst du?«

76.

»Jemand sucht irgendwas an Bord!«, sagte George.

Ich weiß, das bin ich, hätte Gowers beinahe spontan geantwortet. Die mehr als einwöchige Untätigkeit seit Georgetown hatte ihn so mürbe gemacht wie nassen Schiffszwieback. Wie soll man jemandem begegnen, der sich nie zeigt, und das auch noch zufällig? Er kam mit diesem Inder nicht weiter.

Carver hatte noch einmal hereingeschaut, dabei aber Gowers’ Versprechen, mit dem Kapitän zu reden, so demonstrativ unerwähnt gelassen, dass es geradezu in Stein gehauen zwischen ihnen stand. Anschließend hatte der Leutnant ihm Emmeline auf den Hals gehetzt, die jetzt tatsächlich mehr an ihrer baldigen Verehelichung als an der Aufklärung des Falls interessiert schien. Schweren Herzens und begleitet von den immer bissigeren Bemerkungen Van Helmonts hatte er sich also bei Kapitän Radcliffe anmelden lassen, und nun lief ihm der Schiffsjunge in den Weg, der bisher noch nicht eine brauchbare Information geliefert hatte.

Am liebsten hätte er ihn weggeschickt, kommentarlos, vielleicht mit einem Tritt in den Hintern, aber dann sah er sich den Jungen genauer an. Keine Haarsträhne fiel mehr in George Barclays Gesicht, er hatte sie abgeschnitten. Auf Nase und Kinn prangten die frischen roten Striemen, die die groben Scheuerbürsten hinterlassen hatten, und Gowers dachte kurz, dass der Junge mit seiner Meldung vielleicht nur eine Rechnung begleichen wollte.

»Woher weißt du das?«, fragte er.

»Haben ein paar Leute erzählt«, sagte George. »Sie reden jetzt mit mir, wissen Sie, Sir, seit ich …«

»Seit du Neptun seinen Dreizack auf dem Rücken zerschlagen hast«, ergänzte Gowers lächelnd. »Und was haben sie gesagt?«

»Dass jemand was suchen muss, unter Deck. Gibt Kratzspuren hier und da, immer mal wieder welche. Und dass es schon auf der letzten Reise angefangen hat. Sir!«

Sein letztes Wort bellte Barclay derart laut heraus, dass Gowers unwillkürlich zusammenfuhr. Dann bemerkte er, dass Kapitän Radcliffe in Begleitung des offenbar unvermeidlichen Mr. Bell hinter ihm aufgetaucht war. Ein Lotsenfisch, dachte Gowers bei einem kurzen Blick in das ausdruckslose Pferdegesicht des Ersten Offiziers und überlegte, an wen ihn der Mann erinnerte. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass er ihn bisher eigentlich an niemanden erinnert hatte.

»Ich höre, Sie wollen mich sprechen, Mr. Thompson«, sagte der Kapitän und fügte mit einer Ironie, die sich eigentlich nur in seiner Haltung bemerkbar machte, hinzu: »Wenn Sie aber lieber mit Mr. Barclay reden wollen, bitte sehr. Hier lässt jeder gern alles stehen und liegen, um Ihnen zu Diensten zu sein!«