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Als dann mitten in der Nacht ein chinesischer Matrose seinen Strohsack zwischen den beiden Betten ausbreitete, legte Jane die Reisetasche mit den guten Kleidern unter ihren Kopf und schlief erst gegen Morgen mit Johns Messer in der Hand für eine Stunde ein. Sie würde sich ein Zimmer suchen müssen, bevor sie irgendetwas anderes tun konnte. Das würde wieder eine Menge von dem Geld kosten, das sie in einer schmalen leinenen Katze auf der bloßen Haut trug.

»Vier Shilling die Woche, heißes Wasser extra!«, sagte die hagere, schwarz gekleidete Frau, die elfte oder zwölfte Hauswirtin, die Jane nach einem langen, kalten Tag des Suchens und Wanderns angesprochen hatte. Der Preis war überall ungefähr der gleiche, aber das winzige, dunkle Zimmer war sauberer als alles, was sie bisher in London gesehen hatte, deswegen sagte sie sofort zu. Ihre Füße taten weh, in ihrem Kopf brodelte es, aber was sie am meisten zermürbte, war die Tatsache, dass offenbar doch etwas oder jemand den Weg bis zu ihrem Geld, bis auf ihre Haut geschafft hatte.

Sie weinte vor Scham, als sie die kleinen roten Punkte auf ihrem Bauch,zwischen ihren Schenkeln sah, denn sie hatte nie Ungeziefer gehabt, und kratzte sich eine Viertelstunde lang die Seele aus dem Leib, ehe sie auch noch »heißes Wasser extra« in Anspruch nahm. Erst am nächsten Tag machte sie sich auf den Weg nach St. Stephan’s Hall, quer durch die riesige Stadt.

Es dauerte lange, denn Jane bewegte sich unsicher, langsam durch das bodenlose Gewimmel, die Masse der einander schiebenden, drängenden Menschen, der zahllosen Kutschen, hochbeladenen Frachtwagen, vorn und hinten bewacht von Männern mit derben Knüppeln, die das Bettelvolk und die wilden Kinder zurückhielten und dafür unflätig beschimpft wurden. Sie sah die Heerscharen der fliegenden Händler, Frauen, junge Mädchen mit Bauchläden, auf denen sich Obst und Gemüse in jeglichem Zustand so hoch auftürmten, dass man kaum die Gesichter der Trägerinnen erkennen konnte, nur noch die schmutzige Hand sah, die Farthings und Half Farthings kassierte.

Riesige Iren brieten Fisch und Fleisch auf schwarz verrußten fahrbaren Öfen, windschiefen Tischchen. Langhaarige, bärtige Klappergestelle von Männern hatten nicht einmal Tische und boten Schwefelhölzer, Hühneraugensalbe, Rattengift, Hundehalsbänder, Rasier-und Federmesser, Schlüsselringe, Schnürsenkel, Hemdknöpfe, Stecknadeln und alles an, was sich in ihren Mänteln und Hüten irgendwie unterbringen ließ. Fliegende Buch-, Papier-, Porzellanhändler, Tuch-und Kleiderverkäufer, Leute, die Goldfische, Eichhörnchen, Schildkröten, Papageien feilboten, Holzkohle, Salz oder Muscheln, Hunde-und Katzenfutter, Tee, Kaffee, Bier, alle Arten von Alkohol, alle Arten von Milch oder manchmal einfach nur Wasser. Und alle schrien aus Leibeskräften ihre Waren aus, sodass man gar nicht mehr hörte, was sie eigentlich anpriesen, nur noch das kakophonische, sich an sich selbst steigernde »Kauft! Kauft! Kauft!«.

Jane ging langsam, gleichsam betäubt, blieb aber nur zweimal stehen; an einer Ecke, wo ein »Professor aus Cambridge« in Glas eingelegte anatomische Monstrositäten sehen ließ und für Geld erklärte, und auf einem Platz, als sie plötzlich über all dem Lärm einen Dudelsack hörte. Killim Callam, ein schottischer Tanz, dessen Melodie sie zuletzt von Johns Lippen gehört hatte.

Sie ging näher heran, sah den alten Soldaten in seinem Kilt, weißhaarig, graubärtig, beide Augen geschlossen, und erkannte am Tartan, zu welchem Clan er gehörte. Auch das hatte sie von John gelernt.

»MacLean!«, rief Jane, ohne lange zu überlegen und als hätte sie einen alten Bekannten getroffen. Die Umstehenden lachten, nicht so sehr, weil der alte Mann verwundert aufsah, sondern wegen des Mädchens. Jane sah das Mädchen erst jetzt. Sie war ein wenig älter, als Mary-Ann geworden war, aber genauso rothaarig, genauso hübsch. Tanzte den Killim Callam mit nackten Füßen – über zwei gekreuzten Schwertern am Boden. Als sie den Namen ihres Clans hörte, geriet sie aus dem Takt und wäre beinahe in eine der beiden rasiermesserscharf geschliffenen Klingen getreten.

Jane ging weiter, bevor die Augen des alten Mannes sie fanden.

78.

Hilfe kam aus einer gänzlich unerwarteten Richtung, als Gowers, der wieder einmal nicht schlafen konnte, gegen Mitternacht an Deck herumschlenderte. Es war der Schiffsarzt Braddock, der plötzlich in einer Nähe auftauchte, die es unmöglich machte, ihn zu ignorieren.

»Ah, Thompson! Auch noch auf den Beinen?«

Braddock hatte wenig Ansprache an Bord der Northumberland. Zur Mannschaft konnte er in seiner Position keinen persönlichen Kontakt aufnehmen, und die Offiziere hielten ihn offenbar für ein notwendiges Übel. Medizinisch gesehen verlief die Reise bislang ohne besondere Vorkommnisse, wenn man von den beiden Todesfällen absah. Hier ein gebrochener Finger, dort eine kleine Verstauchung, einige Fälle von Geschlechtskrankheit. Es war nicht gerade das, wovon er während seines Studiums geträumt hatte, und die Aussicht, diesen Dienst noch volle fünf Jahre ableisten zu müssen, verdüsterte bisweilen sogar Braddocks eher simples Gemüt.

»Ein schöner Abend«, sagte er, als Daniel Thompson ihm nur kurz zunickte und Anstalten machte, seinen Weg fortzusetzen.

Gowers verspürte in der Tat wenig Lust auf einen Plausch über die Schönheiten der Seereise und nickte wieder nur, ließ sich aber immerhin zu einem zustimmenden Brummen herbei und blieb neben dem Schiffsarzt stehen. »Sind Sie deshalb noch auf?«

»Nein, eine Patientin, wissen Sie. Merkwürdige Sache!«

Gowers horchte beinahe routinemäßig auf. Merkwürdige Sachen sind im Leben eines privaten Ermittlers das Salz in der Suppe, mithin allemal wissenswert. »Wieso merkwürdig?«

»Na, ich kenne sie gar nicht. Ich hab sie nicht mal gesehen.«

Mit einem Mal erschien dem Investigator das Gespräch mit dem Schiffsarzt höchst anregend, und er bemühte sich, möglichst ruhig nachzufragen, um das kleine Feuer nicht auszutreten. »Wie kann sie dann Ihre Patientin sein?«

»Nun, ihre Gouvernante oder Dienerin, so eine indische Dame, kommt hin und wieder, um meinen Rat einzuholen.« Braddock versuchte, die letzten Worte möglichst gelangweilt zu betonen, so als würde sein ärztlicher Rat etwa hundertmal häufiger gesucht, als es tatsächlich der Fall war.

»Wie zum Teufel diagnostizieren Sie da?« Auch Gowers bemühte sich, seine Frage so zu stellen, als hielte er den Schiffsarzt – ohne rechten Glauben – für einen medizinischen Wundertäter. Nur so ließe sich dem Trottel trotz seiner Schweigepflicht vielleicht sogar die Diagnose entlocken.

»Oh, das ist gar nicht so schwer. Wussten Sie, dass es in China vollkommen üblich ist, dass ein Arzt seine weiblichen Patienten nicht sieht?! Die haben so kleine Elfenbeinpüppchen, darauf zeigen die Angehörigen, Mutter, Vater, Ehemann oder so, dem Arzt, wo es den Damen wehtut. Und das alles aus falsch verstandener Scham. Mir war allerdings nicht klar, dass das in Indien auch so funktioniert.«

Damit sich das Gespräch von seinem Hauptgegenstand nicht noch weiter auf den asiatischen Kontinent verlaufen konnte, fragte Gowers: »Sie meinen, diese Gouvernante zeigt Ihnen so eine Puppe?«

»Nein, sie schildert mir die Symptome, und ich …«

Rate, hätte der Investigator beinahe ergänzt.

»Aber ich halte Sie auf!« Der Schiffsarzt wollte jetzt deutlich gebeten werden.

»Durchaus nicht«, tat Gowers ihm den Gefallen. »Aber ist das nicht sehr schwer, so eine Ferndiagnose?«

»In diesem Fall nicht«, sagte Braddock geschmeichelt. »Einfach eine extreme Form von Seekrankheit, nehme ich an. Obwohl diese Gouvernante zuerst an eine Vergiftung dachte.« Der Äskulap der Meere lächelte milde, auch über die plötzliche Aufregung seines Gegenübers.