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Jane hatte sich schon am zweiten Tag überlegt, dass es andere Wege geben müsste. Sie wusste jetzt, wer Lord Ashley war: ein glühender anglikanischer Christ, Menschenfreund, Vorkämpfer der Sechzig-Stunden-Woche, der durchgesetzt hatte, dass Kinder unter neun Jahren nicht mehr in den Mühlen arbeiten mussten. Er war der Mann, der sie verstehen würde – wenn sie ihn nur sprechen könnte!

Aber die endlosen Wege, das Pflaster der Stadt ruinierten ihre Füße, ihr bestes Kleid; auch das Geld würde nur noch für wenige Tage reichen. Sie hasste sich für die einzige Idee, die sie schließlich hatte.

Lady Emily Ashley, geborene Cowper – Nachfahrin eines Dichters auch sie –, hatte die zerfleischenden Selbsterkenntnisse ihres Gatten stets christlich-sorgend begleitet, wusste um seine inneren Kämpfe, kannte auch die äußeren gut genug und stand ihm in beiden nach Kräften zur Seite. Das Billett einer Pfarrerstochter aus – wie hieß das? – Benwell am Tyne war recht ungewöhnlich, aber vielleicht sollte das Mädchen in London zur Schule gehen, gesellschaftlich zulernen, vielleicht auch in eine ehrbare Stellung vermittelt werden, vielleicht …

Es schmeichelte Lady Ashley, dass man ihren Rat bis an die schottische Grenze suchte, dass ihr Ruf als Philanthropin so weit gedrungen war. Die junge Frau, die in der Halle wartete, sah allerdings nicht aus, als müsste sie noch zur Schule gehen oder als würde sie einen christlichen Ratschlag suchen, geschweige denn einen annehmen, wenn sie ihn bekam. Vielleicht lag eine Verwechslung vor?

»Sie sind Jane, Tochter von Reverend Joseph Gowers?«, fragte sie misstrauisch geworden.

»Nicht mehr, Mylady. Mein Vater hat mich verstoßen.«

Großer Gott, eine Gestrauchelte, ein verkommenes Geschöpf, dachte Lady Emily Ashley, und: Wie dreist doch das Bettelvolk wird, wenn einer erst einen guten Namen hat! Ihre Fragen wurden so scharf, wie ihr christliches Gewissen es eben noch zuließ.

»Was wollen Sie hier?«

»Nur einen Moment Ihrer Zeit.«

»Wozu?«

Jane hatte nicht darüber nachgedacht, was sie auf diese Frage antworten würde. Sie konnte auch nie erklären, warum sie tat, was sie tat. Erinnerte sich nur, dass die Schutzflehenden ihre Hände erhoben in allen griechischen oder lateinischen Klassikern. Und Jane hob ihre Hände, die drei Jahre lang Kohle gegraben, geladen, geschleppt hatten, bis sie dicht vor den Augen der Dame waren.

»Für einen Bericht aus den Minen im Norden!«

83.

Zumindest das Gerücht davon, wer den Gott des Meeres mit solcher Inbrunst und ohne jede Scham verkörpert hatte, begleitete Eden seit Tagen auf Schritt und Tritt. Emmeline war deshalb wenig angetan von dem Gedanken, dass eine solche Skandalfigur ihr Trauzeuge sein sollte. Aber Carver, in blindem Stolz auf die Bekanntschaft mit einer so hochgestellten Persönlichkeit und wild entschlossen, für den Rest seines Lebens mit all den wundervoll abenteuerlichen Umständen seiner Hochzeit anzugeben, bestand auf Seiner Lordschaft.

Die Messe wurde für eine kleine Feier hergerichtet, und auf 32° 18’ West und 12° 26’ Süd sprachen Emmeline Thompson und Charles Carver das große Volo und waren nun offiziell Mann und Frau. Kapitän Radcliffe hielt keine bewegende Ansprache, sagte aber das Nötige, ohne die Anekdote zu erwähnen, die er Gowers erzählt und die dieser eigentlich jeden Moment erwartet hatte. Einen kleinen Seitenhieb konnte er der jungen Braut jedoch nicht ersparen, indem er sagte: »Ich freue mich, dass Sie so schnell Trost finden konnten, Mrs. Carver!«

Emmeline ärgerte sich schrecklich darüber, dass sie nun die erste Anrede mit ihrem neuen Namen ein Leben lang mit dieser versteckten Zurechtweisung in Verbindung bringen musste, wurde aber schnell durch das Ständchen versöhnt, das Charles’ zahlreich erschienene Kameraden zu diesem Anlass einstudiert hatten.

Gowers, dem solche Veranstaltungen gemeinhin schon als Zuschauer eher peinlich waren, hatte bereits in dem Augenblick, als Carver damals seinen Antrag machte, insgeheim befürchtet, eine Rede halten zu müssen. Er hatte sogar verschiedene Entwürfe gemacht und war dabei schon in Gedanken so schüchtern geworden, als wäre er die Braut. Darum war er gleichermaßen hocherfreut und tief erleichtert gewesen, als Hauptmann Bledsoe von den 16. Füsilieren zu erkennen gab, dass er sich selbst gerne reden hörte und es als Auszeichnung betrachten würde, diese ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Der gute Mann schüttelte auch derart viele Metaphern über das Meer der Liebe und das Schifflein des ehelichen Bundes aus dem Ärmel, dass Van Helmont die Zigarre ausging und Kapitän Radcliffes Backenbart sich zu kräuseln begann.

Zum Eklat – jedenfalls für Gowers – kam es dann erst, als man im Anschluss an Bledsoes Ergüsse zum unvermeidlichen Punsch überging. Irgendjemand sprach über den zurückliegenden Spaß der Äquatortaufe, und wohl um von seiner unrühmlichen Rolle bei diesem Ereignis abzulenken oder aber besonders darauf hinzuweisen, fragte Lord Eden verschiedene der Anwesenden, ob sie vorher schon einmal jenseits der Linie gewesen seien, unter anderem Gowers.

Der sagte, ohne darüber nachzudenken: »Ja, zweimal. Einmal runter, einmal rauf!«

»Und auf welchem Schiff?«, fragte Eden provokativ.

»Investigator«, rutschte es Gowers heraus, und er hoffte schon, dass es im allgemeinen Gelächter niemand richtig gehört hatte, da fragte der Erste Offizier Bell verblüfft und laut: »Sie waren auf der Investigator, Mr. Thompson?!«

»Ja, Sir«, erwiderte Gowers so leise wie möglich. Aber nun hatten es alle gehört.

»Meinen Glückwunsch, Sir«, sagte Bledsoe und drückte ihm die Hand. »Und meine Hochachtung!«

Carver geriet ins Stottern. »Daniel, ich … ich wusste ja gar nicht, dass du …«

»Was ist mit der Investigator?«, fragte Emmeline naiv, und Gowers atmete beinahe hörbar auf, als sich der redselige Hauptmann wieder einschaltete: »Ja, was ist mit ihr? Ist wohl noch immer da oben, das tapfere alte Mädchen?!«10

»Ich denke ja«, sagte Gowers und überlegte krampfhaft, wie er ohne größeres Aufsehen das Thema wechseln könnte. Aber leider war nicht einmal Van Helmont geistesgegenwärtig genug, Emmeline von ihrer zweiten dummen Frage abzuhalten.

»Was ist so Besonderes an diesem Schiff?«

Die anderen Gespräche verstummten endgültig. Und es war der dicke Kaufmann Merriwell, der es ihr merkwürdig kalt lächelnd erklärte. »Mit der Investigator entdeckte Commander McClure die Nordwestpassage.«

Emmeline war sich nun immerhin über ihren fatalen Schnitzer im Klaren, aber anstatt den Mund zu halten, wollte sie die peinliche Situation anscheinend durch Naivität überspielen. »Oh, davon hast du mir ja nie was erzählt!«

Unglücklicherweise war sie keine sehr begabte Schauspielerin, und Gowers wäre am liebsten im Erdboden versunken, wenn einer da gewesen wäre. Der dritte Lord Eden fragte mit allem verfügbaren Hohn: »Ihr Bruder hat also die Nordwestpassage entdeckt und vergessen, diesen spaßigen kleinen Umstand Ihnen gegenüber zu erwähnen?!«

Endlich schaltete sich Van Helmont ein und machte wie immer einen halbwegs gelungenen Witz aus der Situation. »Das nenne ich echt britisches Understatement. Wenn bei uns ein Yankee auch nur entdeckt, dass er die Brille auf der Nase hat, schreibt er gleich eine Artikelserie darüber.«