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86.

Sie begriffen es nur langsam. Versammelten sich noch, jeden Morgen vor Schichtbeginn, gingen mit den Männern zum Schacht. Einer murmelte schon: »Haltet lieber die Betten warm!« Sie hörten es nicht. Standen vor dem Büro des Reviersteigers.

»Hab nie was Böses getan, Chef. Nicht gemault, nicht gemeckert. Immer gut gearbeitet, lass mich rein!«

»Ich bin stark, Chef!« Eine der Frauen zog ihre Jacke, ihr Hemd aus, zeigte sich wie ein schwarzer Sklave. »Ich schaff mehr als die Lümmel aus dem Süden. Guck, meine Muskeln!«

Er sah nur ihre frierenden Brüste.

»Nichts zu machen. Beschwert euch in London, die haben das Gesetz gemacht!«

Sie verstanden es nicht. Frauen, die ihr Leben lang im Berg gearbeitet hatten, Witwen, die vier Mäuler stopfen, Töchter, die verkrüppelte Väter versorgen mussten. Standen da, sollten von jetzt an nur noch dastehen, zuschauen, und grüne Jungen, vierzehn-, fünfzehnjährige Bengel, angeworben aus allen Städten im Süden, gingen grinsend an ihnen vorbei. Einer ließ die Hosen herunter.

»Hee! Einen Penny, wenn ihr mich nach der Schicht überall ableckt!«

Einige Frauen hoben Steine auf, aber der Junge bekam einen derben Tritt von einem der älteren Männer und lag für Sekunden im Dreck.

»Viel Spaß im Berg!«, rief eine der hübscheren Frauen ihm hinterher, und alle lachten gereizt, auch ein paar Männer. Dann tauchte Beth auf, schon am frühen Morgen betrunken.

»Was wollt ihr hier? Geht endlich heim, blöde Weiber! Zieht die Hosen aus. Polstert eure mageren Ärsche auf. Lächelt! Ohrfeigt euch, dass ihr Farbe ins Gesicht kriegt.«

Dann wandte sie sich der langen Kette müder, grauer Männer zu, die langsam im Berg verschwand, und sagte so laut und höhnisch, dass jeder es hören konnte: »Das da muss geheiratet werden!«

Diesmal sagte ihr niemand, dass über sie geredet wurde. Jane bemerkte es zuerst daran, dass immer weniger Kinder zur Schule kamen, bis sie schließlich, an diesem Tag, mit Ben allein war. Sie überlegte noch, ob sie mit Nelson darüber reden sollte, aber sie hatte keine Angst. Es war ein schöner, ein warmer Tag, beinahe wie der, an dem sie John im Fluss gesehen hatte. Sie dachte jetzt seltener an John.

Beschwert euch in London! Dieser Satz war den Frauen im Kopf herumgegangen wie ein Mühlstein. Manchen fiel auch wieder ein, was Beth Irvine erzählt hatte, als ihre Tochter gestorben war und wenn sie getrunken hatte: dass sich bald vieles ändern würde.

Wo war Jane Williams gewesen, damals, fast einen Monat lang?

Warum hatten die Grubenherren sie zur Lehrerin gemacht?

Woher hatte sie das Geld für Stühle und Bänke, für den Ofen, von dem sie so gerne sprach?

Sie versammelten sich hinter der Mühle, am helllichten Tag, in weniger als einer Stunde: an die hundert wütende Frauen, von überallher, nicht nur aus Benwell. Viele, die gar nichts wussten, Jane Williams nicht kannten, nie gesehen hatten. Einige hatten Knüppel dabei, andere liefen und schnitten sich Weidengerten zurecht, eine holte eine Schere. Flaschen mit Branntwein gingen herum, böse Worte fielen, nervöses Gelächter, Gemurmel schwoll langsam an.

87.

Er kam im Wasser sofort wieder zu sich und wusste auch sofort, dass er nicht lange ohnmächtig gewesen sein konnte, weil der Schiffsbug riesig und schwarz über ihm aufragte; ein urzeitliches Tier, das seinen feuchten, kalten Körper über ihn hinwegwälzen wollte. Er stieß sich mit den Füßen ab, um nicht unter Wasser gezogen zu werden, wusste aber gleichzeitig, dass er das Schiff wieder anschwimmen musste; dass er dazu nur eine einzige Chance hatte; dass es nichts gab, woran er sich festkrallen konnte. In Bruchteilen von Sekunden war ihm das alles klar, und noch während es ihm klar wurde, tastete er nach dem Messer in seinem rechten Stiefel.

Das Wasser machte Kleider und Bewegungen schwer, und er fühlte sich so langsam, bleiern wie in seinen schlechtesten Träumen nicht. Er verfluchte das Hosenbein, das sich nicht hochzerren ließ, er verfluchte die Scheide, die das Messer festhielt, er verfluchte sich selbst, weil er sank in dem verzweifelten Kampf um seine letzte Waffe. Und das Schiff, dessen Bauch er schon wieder in seinem Rücken fühlte, das still und groß weiterziehen würde, ihn allein mit dem Ozean ließ, tausend, zweitausend Meilen in jeder Richtung. Dann hörte er auf zu denken.

Und höher, als er es bei klarer Überlegung gekonnt hätte, schob er seinen Oberkörper aus dem Wasser, tiefer, als es ohne Todesangst möglich gewesen wäre, stieß er sein Messer in den riesigen, hölzernen Leib. Und das Schiff zog ihn mit sich.

Er wusste, dass er nicht einmal eine der untersten Geschützpforten erreichen und weder irgendwie an Bord klettern noch sich lange in dieser Position festhalten konnte. Das Messer würde sich lösen, das Meer würde ihn fortspülen mit einem einzigen Windstoß. Und wenn das alles nicht geschah, würde seine Kraft erlahmen, seine verkrampfte Hand schließlich abrutschen, sein schon jetzt absterbender Körper in die Tiefe sinken.

Die Wellen waren alte Männer. Er sah ihre flatternden weißen Haare, hörte ihr dünnes Gelächter, spürte tastende Finger an seinen Beinen, seinem Bauch. Sie stiegen auf seine Schultern. Er war schwer wie ein Stein.

Die Haie fielen ihm ein, die manchmal den großen Schiffen folgten, und er wusste, dass er um sein Leben schreien musste, schreien, wie er niemals geschrien hatte. Aber nur ein eigenartiges hohes Wimmern kam aus seiner Kehle, das man oben, an die sieben Meter höher auf dem Achterdeck, kaum hören würde.

Der Rudergänger sah seiner Ablösung mit Ungeduld entgegen. Noch zehn Minuten. Noch fünf Minuten. Jetzt! Jetzt aber!! Endlich konnte er auf die Rüstbank steigen, nestelte an seinem Hosenschlitz und hielt sich dann voller Wonne mit einer Hand an der Bordwand fest.

Gowers war sich darüber klar, dass er noch nie einen pinkelnden Mann aus einer unangenehmeren Perspektive gesehen hatte. Und vielleicht war es ja wirklich nur die Entrüstung darüber, dass das Letzte, was er aus dieser Welt mitnehmen sollte, dieser Anblick war, die den Schrei aus seiner Kehle löste.

Der Mensch taumelte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten, die Quelle seines privaten Vergnügens versiegte vor Schreck. Eine Sekunde lang glaubte er, den Verstand verloren zu haben, dann schaute er nach unten. Und fast im gleichen Moment hörte Gowers die schönsten Worte, die er in seinem Leben je gehört hatte: »Heilige Scheiße! Heilige Scheiße!! Mann über Bord!«

88.

Jane hatte vom Fenster aus die Frauen gesehen und verstand nicht, dass all das ihr galt, ihr zugedacht war. Am Anfang wollte sie sogar hinausgehen und fragen, was eigentlich los sei. Dann kamen die Steine. Eine erste Ladung, schlecht gezielt, prasselte gegen die Tür. Nur einer zerschlug eine Scheibe. Und Jane fing zu zittern an, lächelte aber dem Jungen zu, der über seinem Buch saß und erst beim Klirren der Scheibe überrascht aufsah.

»Jane Williams! Jane Gowers! Komm heraus, oder wir holen dich!«

Jane sah durch das zerbrochene Fenster, dass nun all die wütenden Gesichter ihrer kleinen Schule zugewandt waren, und wünschte, sie wäre gleich zu Nelson gegangen.

»Du bleibst hier drin, egal was passiert!«, schärfte sie dem Jungen ein, aber alles an ihr zitterte jetzt, auch ihre Stimme. Um es vor ihm zu verbergen, verschränkte sie die Arme vor der Brust und ging langsam hinaus.

Was soll das Theater?, wollte sie fragen, aber sie hatte die Tür noch nicht geschlossen, da traf sie schon eine Gerte mitten ins Gesicht. Sie hörte nur noch das Pfeifen, dann wurde sie von den niedrigen Stufen gerissen. Hände zerrten an ihr, Fäuste schlugen nach ihr, Stiefeltritte trafen sie im Bauch und im Rücken. Sie wurde einfach fortgespült. Kam noch einmal auf die Beine, fast zehn Meter vom Haus entfernt, da waren ihre Kleider schon zerrissen, war sie halb nackt und trug nur noch einen Schuh. Den linken, in dessen Schnürsenkel sie heute Morgen aus Versehen einen Knoten geschlagen hatte.