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Jane wollte zum Haus zurücklaufen, aber Fingernägel rissen an allen Teilen ihres Körpers, und Schläge von überallher hinderten sie daran, auch nur die Augen zu öffnen. Oder war es das Blut? Ein Stockschlag in die Nieren ließ sie zu Boden gehen, fast gleichzeitig traf ein Fausthieb ihre Schläfe, ihren Kiefer. Sie rollte sich am Boden zusammen, versuchte, in die Erde zu kriechen. So viel Hass, so viele Hände griffen nach ihr! An den Haaren wurde sie hochgerissen, eine Strecke geschleift, dann hörte sie das Quietschen der Schere, fühlte einen scharfen Schmerz quer durch ihr linkes Ohr, schrie und hörte im Heulen, Johlen der Menge ihren eigenen Schrei nicht.

Blutend, geschoren, ließ man sie eine Sekunde lang liegen, und sie hörte furchtbare Stimmen von allen Seiten: »So, die Frau Lehrerin. Schlagt ihr die Zähne ein! Brecht ihr die Nase. Holt einen Mann, der es ihr richtig besorgt. Holt einen Schürhaken!«

Jane fühlte, wie ihre Vorderzähne zerbrachen, als jemand mit einem Stein auf ihren Mund einschlug, und fürchtete, dass auch alles andere geschehen würde, aber dann hörte sie neue Schreie: »Haltet den kleinen Bastard! Schlagt ihn tot. Passt auf, er hat ein Messer! Er hat mich erwischt!«

Da wusste sie, dass Ben ihr nicht gehorcht hatte und sterben würde, wie sie gerade gestorben war.

Aber es geschah nicht an diesem Tag.

Als die Frauen ihn schon am Boden hatten, ohne dass er sein Messer losgelassen hätte, als ihn die Knüppel trafen und er nahe bei seiner Mutter lag, hörte mit einem Mal alles auf. Ein Moment Stille entstand in dem Toben und Heulen und ein leerer Kreis um Jane und den Jungen, vielleicht anderthalb Meter, inmitten der Menge.

Jane schlug die Augen auf, wischte den roten Nebel mit der Hand fort. Über ihr stand Beth, eine abgebrochene Flasche in der Hand, und wahrscheinlich fragten sich beide, was sie im nächsten Moment damit tun würde.

Dann lachte Beth leise und dunkel und sagte: »Ihr Drecksäue! Gottverfluchte Tiere, kommt ran! Wer den Jungen anrührt, dem zerschneide ich die Fresse von einem Ohr zum anderen. Kommt ran!« Sie wurde lauter und lauter. »Na, kommt doch! Ich hab schon einen Mann erschlagen, im Berg, mit meinen Händen!«

Eine kreischende, wilde Stimme schrie: »Du kannst uns nicht alle kriegen, Beth Irvine!«

»Nein.« Beth lachte jetzt böse, spuckte ihre Worte in großen Flocken in die hundert Gesichter. »Nicht alle. Aber jede. Nicht jetzt. Aber morgen. In einer Woche. In einem Jahr. Ich vergifte eure Bälger, ich hänge sie in die Bäume! Ich verbrenne eure Häuser und pisse in die Asche!«

So groß war ihr Zorn, dass die Menge sich vor ihr teilte. Sie zog Ben hinter sich her, Jane folgte den beiden, auf Händen und Knien. Die Frauen schlugen sie nicht mehr. Aber sie spuckten jetzt, warfen mit Steinen und Dreck. Junge Burschen, einige Männer, Volk, das inzwischen gehört hatte, dass »etwas los« sei, stand dabei, lachte ungläubig.

Ein Schwall kalten Wassers traf Janes Kopf, ihren zerschlagenen Körper.

»Wasch dich erst mal, Frau Lehrerin!«

Dann war es nur noch Gelächter, durch das sie kroch. Sie sah jetzt auch wieder. Sah den endlos langen Weg durch das Dorf vor sich. Sah, wie Ben anhielt und auf sie wartete. Ihre Hände im Staub. Dann nichts mehr.

89.

Der Sergeant wusste, dass dies der letzte Tag seiner langen Wache war.

Frankreich hatte sich 1840 entschieden, den Kaiser heimzuholen. Die Bourbonen brauchten eine gute Presse, und Napoleon würde sie ihnen beschaffen. Nicht der Dritte dieses Namens, der Neffe des Korsen, der am gleichen Tag in die Festung Ham wanderte, an dem die Belle-Poule vor Jamestown Anker warf. Sondern der große Bonaparte selbst, der Mann, der seit neunzehn Jahren im Geraniumtal auf St. Helena unter einem weißen Stein ohne Inschrift lag, weil Briten und Franzosen sich nicht einmal über seinen Namen einig waren: Napoleon I., Kaiser der Franzosen oder General Bonaparte, Prisoner of War. So hatte der Sergeant einen Namenlosen bewacht, Tag für Tag.

Am Anfang hatten sich die Leute über ihn lustig gemacht: ein kriegsversehrter englischer Veteran, der freiwillig auf diesen einsamen Felsen im Atlantik gekommen war, um den Kaiser zu sehen. Und der nur noch sein Grab fand, unter einer uralten Weide, und Longwood House verlassen, Napoleons Zimmer ein Schafstall, der Garten, in dem die letzten Kämpfe des großen Feldherrn der Hervorbringung von Zwiebeln und Kohlrabi gegen eine übermächtige Natur gegolten hatten, vom Vieh zertrampelt.

Der Sergeant war gekommen – aber das wusste niemand –, um diesen Mann zu töten, und er blieb, um sein Grab zu bewachen.

Er war gekommen, weil er zur Division Alten gehört hatte und Napoleon erzählen wollte von den dreitausend Mann, die bei La-Haye-Sainte zusammengehauen wurden, während ein schottischer Pfeifer bis zuletzt seinen Pibroch spielte. Von den immer kleineren Karrees der jungen englischen Infanteristen auf dem Hügel von Mont-Saint-Jean, über die die gesamte französische Kavallerie hergefallen war. Von seinen Kameraden, die unter den Pferdekadavern zerquetscht wurden, von Eingeweiden und Blut und umherfliegenden Gliedmaßen, wenn wieder eine Kartätschenladung ihr Ziel gefunden hatte. Und von den Schreien, die er immer noch hörte.

Sie hatten standgehalten, er und seine Kameraden, standgehalten den Kartätschen, den Kürassieren, dem wahnsinnigen letzten Ansturm der Alten Garde. Standgehalten den Männern, die Europa überrannt hatten von Spanien bis zum Ural – aber nicht sie, an diesem regnerischen Tag, auf diesem durchweichten Hügel in Belgien! Sie waren nur noch wenige, verzweifelt wenige, und von denen, die am Morgen mit ihm ausgezogen waren, stand nicht ein Mann mehr, aber sie waren nicht zurückgewichen.

Und im Namen von vierzigtausend Toten, Engländern, Schotten, Holländern, wollte er diesem einen Mann ins Gesicht schreien, was ihm anscheinend und eigenartigerweise niemand wirklich gesagt hatte; das alte Wort, das alle Kämpfe beendete, das Stille schaffen würde in seinem Kopf und das Napoleon nie gehört hatte: besiegt!

Er saß lange an diesem Grab, diesem kleinen Stein unter der Weide am Ende der Welt. Und kam wieder am nächsten Tag. Und am dritten riss er das Unkraut aus zwischen den Blumen auf dem Hügel seines großen Feindes, mit der Hand, die ihm geblieben war. Er erzählte Napoleon von der anderen, der blutigen, die auf dem fernen Feld lag, bei Waterloo vermodert war oder gefressen von den Hunden. Die Hand, die seine Frau und sein Kind gestreichelt hatte und ihnen beiden die Augen schließen musste an einem noch ferneren Tag.

Der Sergeant rauchte seine alte Pfeife und saß an die Weide gelehnt und erzählte dem Kaiser das alles, und der Kaiser antwortete leise, wisperte, war der Wind in den Zweigen, der ihm manchmal den Rauch von den Lippen blies, neunzehn Jahre lang.

Sein Haar wurde weiß auf der langen Wache, und während Longwood House immer mehr verfiel, blieb der kleine Friedhof im Geraniumtal, wie er war. Und so mancher vorwitzige Matrose, Walfänger, der gekommen war, »um auf Boneys Grab zu spucken«, ging wieder mit dem Hut in der Hand oder der Mütze unter dem Kinn, in die das Blut aus seiner gebrochenen Nase tropfte.

Diesmal aber hätten ihm auch zwei Fäuste nichts genützt. Frankreich kam, um seinen Feind wegzuholen, und Frankreich hatte ein größeres Recht an dem Toten. Millionen Franzosen und nicht zuletzt die Geschichte warteten dort auf einen Nationalhelden.

Ihr letztes Gespräch war der Regen, der an diesem Tag heftig und ohne Pause fiel, aus dem dunklen Himmel über Hutt’s Gate, und auf den namenlosen Stein trommelte, als sollten die Toten erwachen. Der Sergeant trat zurück und salutierte, als die Franzosen kamen.