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Der Prinz von Joinville machte ihm ein Geldgeschenk, aber er ging, der Sieger von Waterloo, über den steilen, schlammigen Weg zurück zum Meer und zum Hafen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

90.

Gowers war gerade im Beiboot aufgestanden, als die Salutschüsse losdonnerten. Die Kolonie war vollzählig angetreten, eine kleine Tribüne aufgebaut, Fähnchen wurden geschwenkt, zwei Dutzend Soldaten präsentierten das Gewehr, und ein Kinderchor sang Hail the conquering Hero comes, kaum dass der Salut verraucht war.

»Die Eingeborenen freuen sich aber anscheinend mächtig, Sie zu sehen«, raunte ihm Van Helmont ins Ohr, und tatsächlich: Seit eben einer der Matrosen im vorderen Boot mit dem Finger auf ihn gezeigt hatte, waren alle Blicke Gowers zugewandt. Noch auf dem hölzernen Kai überreichte ein kleines Mädchen ihm einen Blumenstrauß, und zwei junge Mütter waren offenbar planmäßig aus dem Spalier der Jubelnden ausgebrochen und boten ihm ihre Babys zum Willkommenskuss an.

Gowers lächelte gequält. Er hatte weiß Gott schon viele Identitäten angenommen, aber Daniel Thompson fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Zumal er offenbar gerade mit seinem »Vater« Samuel verwechselt und für den neuen Gouverneur von St. Helena gehalten wurde. Als er glücklich auf terra firma stand, wechselte die Menge gerade von jeweils dreifachen Hoch-und Hurra-Rufen auf ein unterschiedlich skandiertes »Lang lebe Thompson!«, das ihm siedend heiß durch die Knochen fuhr. Wie sollte er den braven Leuten nur beibringen, dass Samuel Thompson sich schon seit fast zwei Monaten in Segeltuch eingenäht und mit einem Sack Ballast an den Fußknöcheln in einer vermutlich eher trostlosen Einöde auf dem Grund des Atlantiks befand?

Ein grauhaariges Männlein in einer altertümlichen britischen Admiralsuniform schwankte freudetrunken auf ihn zu und ergriffbewegt seine Hand: »Freue mich sehr, Mr. Thompson, freue mich außerordentlich!«

Gowers räusperte sich verlegen. »Tut mir leid, Sir, aber das ist eine Verwechslung.«

»Oh!«, sagte das Männlein, nicht im Mindesten beunruhigt, und wandte sich nun mit entschuldigendem Lächeln an Van Helmont: »Dann sind Sie Thompson. Schön, Sie endlich hierzuhaben!«

Van Helmont nahm die Zigarre aus dem Mund, drückte herzlich die angebotene Hand und sagte in Anspielung auf die Jubelkulisse: »Ist auch schön herzukommen, Sir. Aber ich bin leider auch nicht Thompson.«

»Nicht?«, sagte das Männlein, jetzt doch enttäuscht, und fügte mit einem Anflug von Ärger hinzu: »Wo zum Teufel ist Thompson?«

»Mein Vater, Sir«, sagte Gowers sehr vorsichtig, »Samuel Thompson ist leider auf See verstorben.«

Das Männlein, in dem man nun unschwer den alten Gouverneur erkennen konnte – obwohl solche feinen Unterscheidungen gerade obsolet geworden waren –, verkroch sich in einem Anfall von jäher Schwermut in seiner Admiralsuniform, schnurrte jedenfalls merklich zusammen und »der Menschheit ganzer Jammer trat in seine Augen«, wie Van Helmont es später ausdrückte. Offenbar setzte ihm vor allem die Aussicht zu, noch einmal auf unbestimmte Zeit Ihrer Majestät Königin Viktorias Stellvertreter auf dieser zugigen kleinen Insel zu sein.

»Gottverdammt, gottverdammt!«, murmelte er, ging an seinen Besuchern vorbei und starrte sehnsüchtig hinaus auf die See, als würde er am liebsten hineinspringen und bis nach England schwimmen, ohne noch einmal zurückzuschauen. Allmählich verstummten auch die Vivat-Rufe der tapferen Kolonisten in seinem Rücken, denn aus dem merkwürdigen Verhalten ihres Häuptlings erschloss die Menge, dass es im Verlauf der weiteren Inaugurationsfeierlichkeiten unvorhergesehene Schwierigkeiten geben würde – milde ausgedrückt.

»Jammerschade, all das abzublasen«, sagte der kleine Gouverneur, als er sich wieder ein wenig gefangen hatte und sich erneut dem Felsen und seinen jetzt todtraurigen Pflichten zuwandte. »Und Ihnen mein Beileid, Sir!« Zum zweiten Mal drückte er Gowers die Hand, und es war unklar, wer wen mehr bedauerte. Die versammelte Kronkolonie schien den Händedruck allerdings für ein hoffnungsvolles Zeichen zu halten, denn vereinzelt und zaghaft ließen sich nun wieder Hurra-Rufe hören.

»Warum abblasen?«, mischte sich da Van Helmont ins kolonialpolitische Geschehen. »Machen Sie einfach eine Art Leichenfeier daraus. Mr. Thompson hier kann ein paar passende Worte sagen!«

91.

Gowers warf dem Arzt einen so erbitterten Blick zu wie nur je ein Mann, der schon bei einer kleinen Hochzeitsfeier auf See nicht die passenden Worte gefunden hatte, und machte deutliche Anstalten, wieder ins Boot zu steigen.

Zu seiner unendlichen Erleichterung schüttelte der Gouverneur rasch den Kopf und sagte: »Nein. Aber ich fürchte, ich muss ein paar passende Worte sagen. Wenn mir auch im Moment keine einfallen. Kommen Sie mit, Gentlemen!«

Sie folgten ihm zu der kleinen Tribüne, wobei ihr Führer den aufbrandenden Applaus durch Mimik und Gestik geschickt zu dämpfen verstand. Oben angekommen, entblößte er als Erstes sein graues Haupt und brachte die Menge dadurch endgültig zum Verstummen.

»Meine lieben Landsleute! Ich bedauere unendlich« – und hier machte er eine kleine Pause, die ihm selbst wahrscheinlich mehr bedeutete als allen anderen –, »Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr neuer Gouverneur Samuel Thompson auf See verstorben ist. Ich habe diese traurige Botschaft selbst gerade erst erhalten und hoffe, dass uns allen der Sohn des lieben Verstorbenen Näheres darüber mitteilen kann.«

Er trat geschickt zwei Schritte zur Seite und exponierte damit den unglücklichen Gowers, der sich in seiner Deckung bereits wieder entspannt hatte. Alle Augen wandten sich, alle Herzen flogen ihm zu, während er den Gouverneur mit Blicken zu durchbohren versuchte und am liebsten »Giftzwerg! Lügner! Fiese alte Schlange!« gesagt hätte. Stattdessen stammelte er, mühsam ein Wort ans andere flechtend: »Ich bin überwältigt von diesem, diesem so überaus herzlichen Empfang, den mitzuerleben meinen Vater, meinen verstorbenen Vater sicherlich auch überwältigt hätte, der ihn aber auch glücklich gemacht haben würde und auch stolz. Stolz auf Sie.«

Er stockte, weil er schon jetzt nicht mehr wusste, was er eigentlich gesagt hatte; vor allem aber, weil die Worte »Und wenn er mich jetzt sehen könnte …« in seinem Gehirn aufgetaucht waren und keinen Platz mehr für irgendetwas anderes ließen. Er wusste aber, dass er das nicht sagen könnte, ohne ein prustendes »Dann würde er sich ziemlich wundern« hinzuzufügen, also tat er das bei Weitem Klügste, was er tun konnte: Er verstummte.

Die Menge applaudierte höflich. Schließlich hatte der Mann gesagt, dass er überwältigt war. Was konnte man mehr verlangen? Inzwischen hatte glücklicherweise der Gouverneur genügend passende Worte gefunden, um das unvermutete Ereignis in eine Länge zu ziehen, die dem ganzen Aufwand wenigstens halbwegs angemessen war. Er dankte Daniel Thompson für seine bewegende Ansprache, erdichtete kurzerhand eine Begegnung mit dem Verblichenen, in glücklicheren Tagen, in der Fülle seiner Kraft, seiner Hoffnungen, seiner vielversprechenden Gaben – und sprach dann ganz einfach über das Schiff.

Dass alles noch viel tragischer sei, weil man gerade von diesem Schiff und von dem, was es dieser Insel schon an Weltgeltung gebracht hatte, einen glückverheißenden Neuanfang hätte erwarten dürfen, einen Aufschwung in jeder Hinsicht. Aber Samuel Thompson, der Mann, der diesen Aufschwung gebracht hätte, sei vor der Zeit von Bord gegangen, abberufen worden auf einen größeren Ozean, zu höheren Aufgaben. Dann folgten so viele schmeichelhafte Vergleiche zwischen dem Verstorbenen und dem ersten Kaiser der Franzosen, dass Gowers, der zuletzt kein Wort mehr verstanden hatte, allmählich dämmerte, was es mit der Northumberland auf sich hatte. Und verwirrt, wie es wohl nur ein Detektiv sein kann, der seine Informationen gewöhnlich in Hinterzimmern und im Flüsterton, nicht aber vor staunendem Publikum und mit Chorbegleitung erhält, unterbrach er den Redner mit der Frage: »Sie meinen, Napoleon ist auf diesem Schiff nach St. Helena gekommen?«