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»Wenn wer mit dem Kapitän spricht?«, ertönte die bärbeißige Stimme eines Mannes, der sich ihnen von hinten genähert hatte, ohne dass sie es merkten.

»Oh, Sir«, sagte Emmeline, die sich seit ihren Zusammenstößen wegen des Selbstmords oder Nichtselbstmords ihres Vaters vor dem Herrn des Schiffs ein wenig fürchtete und ihm nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen war. »Doktor Van Helmont hier!« Sie lächelte verlegen, während Van Helmont sekundenlang die Augen verdrehte. »Ich werde dann mal nach Charles sehen!«

Die beiden Männer sahen ihr wortlos hinterher.

»Sie wollen mich sprechen?«, brummte der Seemann schließlich.

»Ja«, seufzte Van Helmont, »es geht um Mr. Thompson …«

Als hätte er nur auf die Erwähnung dieses Namens gewartet, verdrehte nun Kapitän Radcliffe die Augen, nahm gewissermaßen Abwehrhaltung ein und sagte möglichst bissig: »Ach was? Ist er wieder über Bord gegangen? Will er heiraten? Oder sich aufhängen?« Mit einem tiefen Ausatmen, das von Resignation kündete, gab Radcliffe dann ganz plötzlich seine kämpferische Haltung auf. »Wissen Sie eigentlich, wie oft dieser Name schon im Logbuch steht?!«

»Leutnant Carver«, sagte der Arzt, »der junge Mann, den Sie neulich getraut haben, nun, er will sich mit Thompson duellieren. Ihn umbringen, Sie verstehen?«

»Und ob!«, sagte der Kapitän nach einer Sekunde ehrlicher Verblüffung und fügte ironisch hinzu: »Ein wackerer Entschluss. Ich hatte auch schon daran gedacht.«

»Es ist leider ernst, Sir. Können Sie irgendetwas tun? Oder verhindern?«

Radcliffe fasste sich. »Hier auf dem Schiff, ja!« Dann deutete er auf St. Helena, die gelben Felsen der Bai von Jamestown und sagte knapp: »Auf dem Felsen da, nein. So leid es mir tut. Informieren Sie mich gelegentlich über das Ergebnis!« Er stapfte davon und schien aus ganzer Seele zu hoffen, möglichst bald wieder auf der offenen See zu sein.

»Das wird hoffentlich nicht nötig sein«, murmelte Van Helmont und dachte an den Plan, den Lucia Elizabeth Abell sich ausgedacht hatte.

95.

Der Kaiser in seinen vier Särgen wog über eine Tonne, eintausendzweihundert Kilo, und zwei Pferdegespanne und dreiundvierzig Soldaten waren nötig, um ihn über die aufgeweichten, schlammigen Wege bis nach Jamestown zu bringen. Die Schaluppe der Belle-Poule wäre beinahe gesunken, als man den Sarg mit dem großen N auf sie hinunterließ – was für ein Ende dieses patriotischen Unternehmens, während alle Kanonen auf See und an Land Salut feuerten und der einzige Sonnenstrahl dieses trüben Oktobertages 1840 durch die Wolken brach und Napoleons Abschied von St. Helena in ein gleißendes, aber auch gespenstisches Licht tauchte.

Auf den Schiffen waren alle Männer an Deck, hingen in der Takelage, hatten ihre besten Uniformen an, als ob der Kaiser sie sehen könnte, und verfolgten, wie die Schaluppe mit ihrer schweren Last unter einer riesigen Trikolore durch die kleine Bucht auf die Belle-Poule zuhielt. Eine einzelne Trommel schlug, und ohne dass irgendjemand den Befehl dazu gegeben hatte, stieg der alte Schrei in den Himmel, den die Welt seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gehört hatte, erst vereinzelt, dann aus vielen tausend Kehlen, hallte wider von den kahlen Felsen, die den Mann einst verschluckt hatten.

»Vive l’Empereur! – Es lebe der Kaiser! Es lebe Frankreich! Es lebe der große Napoleon!«

Bertrand, Gourgaud, Marchand, die letzten Getreuen, alte Männer, die gekommen waren, ihren toten Herrn heimzuholen, weinten in diesem Moment. Hatten nicht geweint, als der innerste Sarg aus seinem kleinen Grab im Geraniumtal wieder aufgetaucht war. Nicht, als er geöffnet wurde und sie das wächserne Antlitz der Leiche sahen, die weißen Zehen, die aus den aufgeplatzten Stiefeln ragten, die der Kaiser bei Waterloo getragen hatte.

Den Säbel von Waterloo bekam später Bertrand geschenkt, von Louis Philippe persönlich, auf den Stufen des Invalidendoms. Oder jedenfalls einen der Säbel von Waterloo. Es gab inzwischen etliche. Hätte Napoleon bei Waterloo all die Säbel getragen, die später als »der echte« auftauchten, er hätte die Schlacht gar nicht verlieren können.

Ein ganz ähnlicher Nachahmungstrieb erstreckte sich auch auf Manschettenknöpfe, Schnupftabakdosen, Fußbänkchen und sogar ein transportables Klosett. Alles, was ihm gehört hatte oder wovon es hieß, dass es ihm gehört habe, wurde hoch gehandelt.

Bertrand wusste das. Und ihm lag nicht viel an dem Säbel. Ihm lag an der Geranie, die er, der Held vieler Schlachten, der hochdekorierte General Frankreichs, seinem Petit Caporal bei der kurzen Exhumierung heimlich in den Sarg gelegt hatte und die nun neben dem Kaiser im Invalidendom ruhte.

Es war eine der Geranien, die noch seine Frau, Madame Bertrand, die letzte Bettgenossin des großen Mannes, einst auf dem fernen Grab im Atlantik gepflanzt hatte, weil sie und nur sie wusste, dass Napoleon Bonaparte, der Herr der Welt, diese kleinen Blumen liebte, seit er auf Korsika in einer Wiese gesessen und den Maikäfern ein Liedchen gesungen hatte, um sie zum Auffliegen zu ermuntern.

96.

»Und du hast ihn gesehen?«, fragten die Zuhörer begierig.

»Ja, ich hab ihn gesehen«, log der Matrose, »hab ihn so deutlich gesehen, wie ich euch hier sehe. Er sah aus, als würde er schlafen.«

»Er hat nie geschlafen, nie mehr als vier Stunden«, sagte ein zahnloser alter Soldat in einem anderen Winkel der Kneipe. »Ich hab ihn gut gekannt. Nicht bloß seine Leiche gesehen!«

Nur wenige hörten ihm zu. Paris war heute voller Veteranen, alten Männern, die ihre geflickten Uniformen, die verbotenen Uniformen der Großen Armee, wieder angelegt hatten. Weit gereist waren, aus allen Provinzen, viele zu Fuß, um ihrem Feldherrn die letzte Ehre zu erweisen. Sie nannten ihn natürlich nicht den Kaiser, für sie war er Napoleon oder der kleine Korporal. Und für ein paar Sous erzählten sie ihre alten Geschichten aus einer anderen Welt, von Marengo, den Pyramiden, Austerlitz, Borodino. Sie standen an allen Ecken, jeder konnte sie hören.

Da war ein echter Matrose von der Belle-Poule schon interessanter, ein Mann, der Napoleon heimgeholt hatte von der schrecklichen, weit, weit entfernten Insel, der in seinem Haus, seinem Schlafzimmer gestanden hatte.

»Eine kleine Kapelle haben wir ihm gebaut, an Bord, direkt unter der Kommandobrücke. Da stand der Sarg drin. Und er war nie allein, nie. Tag und Nacht waren immer Männer drin und haben gebetet, die ganze Reise. Sogar den Prinzen von Joinville habe ich beten sehen, am Sarg des Kaisers!«

»Ich hab im letzten Karree gestanden, im letzten, jawohl«, lallte der betrunkene Veteran wieder dazwischen. »Rücken an Rücken mit ihm, Rücken an Rücken! Die haben ihn rausgezogen, mit Gewalt rausgeholt, seine Generäle. Sonst wären wir zusammen gefallen.«

Er fing an zu weinen, aber die Zuhörer höhnten nur: »Haben sie dich auch rausgezogen, die Generäle? Oder warum lebst du noch?«

»Ja, warum? Warum?«, heulte der Alte, und Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln, als er schrie: »Um eine Brut wie euch zu zeugen! Hunde, die mit dem Schwanz wedeln, wenn die Engländer ihnen einen alten Knochen schenken!«

»Das war’s, schmeißt ihn raus!«, sagte der Wirt. »Noch einen Schnaps und dann raus mit ihm!« Und wieder zu dem Matrosen gewandt: »Erzähl noch mal von der Insel, Louis! Wie ist die Insel?«

»Erzähl vom Schatz!«, unterbrachen ihn andere. »Von Napoleons Schatz. Habt ihr danach gesucht?«

Derbe Fäuste packten den Veteranen am Kragen, er verschüttete seinen letzten Schnaps auf der alten Uniform, die er fünfundzwanzig Jahre lang auf einem Heuschober in der Picardie versteckt gehalten hatte für diesen Tag. Eine dralle junge Frau schenkte ihm neuen ein, goss auch etwas in seine zerbeulte Feldflasche.