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In der Saling hatte sie gesessen, auf dem Fockmast, und schon beim Auslaufen von St. Helena lauschte sie mit einem geheimen, sündhaften Vergnügen auf die seltsamsten Worte: Vorstengestag, Außenklüverfall, Bramgording, Gaffelliek – mein Gott, aufmerksamer als auf die Worte der Predigt. Sie wiederholte sie in ihrem Kopf, fragte sich, was sie bedeuteten. Bisweilen trieb sie sich sogar auf dem Vorschiff herum, umschlich die Matrosen wie eine schwarze Katze und lauerte auf solche Wörter, hörte aber meist nur ein paar andere, die sie ebenso wenig verstand.

Nach dem gemeinsamen Nachmittagsgebet sonderte sie sich wieder ab, schlenderte auf dem Schiff herum und schlüpfte schließlich in seinen Bauch. Stieg ein paar Niedergänge hinunter und kroch schließlich auf allen vieren durch eine niedrige Luke, die sie offen fand und bisher gar nicht bemerkt hatte. Hier unten war alles in eine merkwürdig dumpfe Dämmerung getaucht. Sie sah einen staubigen Lichtstrahl am anderen Ende des kleinen Stauraums, ging näher heran, um ihn sich anzusehen und wäre beinahe über die Leiche gestolpert.

Der Mann kauerte am Boden, sein Hemd war über den Kopf, seine Hose heruntergezogen, schwarze Striemen, geronnenes Blut bedeckten den nackten Rücken und sein Gesäß. Maude erschrak furchtbar, aber sie schrie nicht. In der Bibel kamen noch ganz andere Sachen vor. Ihr Vater hatte es ihr vorgelesen, noch ehe sie laufen konnte. Und deshalb sah sie sich die Leiche erst sehr genau an, ehe sie wieder zurück zu der kleinen Luke ging, durch die sie gekommen war. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und genau hinsah, konnte sie die Leiche auch von hier aus erkennen. Sie räusperte sich und schrie dann gellend um Hilfe.

Oben hatten sich Emmeline und ihr Gatte, Van Helmont und Gowers gerade erst in der Kabine der jungen Eheleute zusammengesetzt, weil die Carvers uneingeschränkte Aufklärung über den Stand der Ermittlungen verlangt hatten. Gowers hatte aber noch nicht mehr getan, als die simpelsten Fakten zusammenzufassen, als sich draußen lautstarke Aufregung erhob. Er vertröstete die Anwesenden mit einer Handbewegung und steckte rasch die Nase an Deck.

»Was ist los?«, fragte er einen der vorbeistapfenden Matrosen.

»Gottverdammt!« Das Schicksal wollte, dass es Midshipman Gore war. »Einer hat ihn gekillt, Sir! Gottverdammt! Einer hat den Jungen gekillt, unsern George!«

104.

Gowers hatte gerade den Fundort untersucht und überlegte noch, wie er nahe genug an die Leiche herankommen könnte, als Braddock schon an die Tür klopfte.

»Äh … Guten Tag, Mr. Thompson. Könnte ich wohl Doktor Van Helmont sprechen?«

Natürlich durfte der Investigator als »Van Helmonts Assistent« an der Obduktion teilnehmen, die im Quartier des Schiffsarztes auf einem niedrigen Behandlungstisch stattfand. Ein paar Matrosen hatten George in Braddocks Obhut gegeben, nicht weil sie glaubten, dass noch medizinische Hilfe nötig oder möglich sei, sondern weil schließlich irgendwas mit dem Jungen geschehen musste.

Die Leichenstarre war schon so weit fortgeschritten, dass der Körper sich vorläufig nicht mehr aus seiner zusammengekauerten Haltung bringen ließ. Es war deshalb ein sehr unwürdiger Anblick, als der Schiffsarzt das weiße Tuch wegnahm und George Barclay halb nackt und mit angezogenen Beinen auf dem Tisch lag wie ein überdimensionaler Säugling.

»Schneiden wir erst mal die Sachen runter«, sagte Van Helmont so sachlich wie nur je ein Mann, der schon Tausende kalter, toter Körper gesehen hatte.

»Moment!« Gowers untersuchte zuerst den Gürtel, die Hose, die Haut an den Hüften, den unteren Rand des Hemds. »Nichts zerrissen, keine Kratzer«, murmelte er und stellte mit einem raschen Blick zu Van Helmont fest: »Er muss sich selbst ausgezogen haben.«

Während Braddock noch über den Sinn dieser Worte nachgrübelte, seufzte Van Helmont wie jemand, dem die unangenehmste Aufgabe des Tages bevorsteht, trat dann dicht an die Leiche heran und nahm eine Stelle in Augenschein, die der Schiffsarzt gar nicht oder doch erst sehr viel später näher untersucht hätte.

»Keine Penetration!«, sagte Van Helmont nach einer Weile knapp, und Braddock merkte sich mit ernstem Nicken Worte und Handlung für die kommenden Obduktionen seiner medizinischen Praxis – wo beides für viele ungläubige und entrüstete Blicke sorgte, vor allem wenn es sich bei den Leichen um die würdigen Überreste eines Richters, Kaufmanns oder Bürgermeisters handelte.

Sie entfernten die Kleider mit einer Schere und den entsprechenden Umständen. George Barclays Gesicht tauchte auf, seine Augen waren weit geöffnet und aus den Höhlen getreten. Van Helmont zog an dem heraushängenden Ende des schmutzigen Lappens in seinem Mund, aber die toten Kiefer hielten ihn fest, und die ganze Leiche bewegte sich wippend, sooft der Arzt anzog.

»Da hat er sich ganz schön drin verbissen!«

»Ist das wichtig?«, fragte Braddock, während Van Helmont einen großen Metallspatel aus der Instrumentenkiste nahm, um dem Toten den Mund aufzubrechen. Gowers erklärte es ihm.

»Das bedeutet, dass er sehr wahrscheinlich erst verprügelt und dann getötet wurde. Er hat sich den Schmerz verbissen.«

Mit einem widerlichen Knirschen öffneten sich die Kiefer, der Arzt entfernte das Tuch und verhinderte mit seinem Spatel geschickt, dass sich der Mund wieder schloss.

»Blut in der Mundhöhle«, sagte er brummend und schob mit zwei Fingern die Zunge hin und her. »Die Zunge ist an den Rändern zerbissen und sehr weit herausgetreten. Das kann eigentlich nur bedeuten …« – ein kurzer Blick in den Rachen und ein längerer auf Hals und Nacken des Toten bestätigten den Verdacht – »… der arme Junge ist erwürgt worden.«

Van Helmont trat nach Feststellung dieses ersten und wesentlichsten Ergebnisses zurück und überließ es Gowers, die Hände und Fingernägel des Opfers zu untersuchen. Ein helles Knacken verriet ihm, dass auch das nicht ohne Gewaltanwendung möglich war; die Finger waren ineinander verklammert wie bei einem Betenden und die Hände an den Gelenken so stramm gefesselt, dass sich an beiden Seiten bläuliche Hautwülste gebildet hatten. Gowers nahm sich mithilfe einer Lupe jeden Finger einzeln vor.

»Nichts«, sagte er. »Keine Haut, kein Blut, nur Schiffsdreck. Er scheint sich nicht sehr gewehrt zu haben.«

»Drehen wir ihn um«, sagte Van Helmont, und eine halbe Minute später hockte der Schiffsjunge auf dem niedrigen Tisch wie ein toter Frosch. Mit einer Handbewegung ließ Van Helmont diesmal dem jungen Braddock den Vortritt, weil der sich offenbar allmählich überflüssig vorkam.

»Schläge auf Rücken und Gesäß«, konstatierte der Schiffsarzt mit der fachmännischen Kürze, die er an den anderen so bewundert hatte, aber das hätte auch ein Blinder sehen beziehungsweise an dem kalten Körper ertasten können. Die Striemen waren blauschwarz geschwollen von dem unter der Haut zusammengeströmten Blut.

»Hautverletzungen?«, fragte Van Helmont.

»Nur wenig«, erwiderte Braddock. »Und das sind eher Kratzer, jedenfalls ist nichts richtig aufgeplatzt.«

»Also eine Gerte oder eine leichte Peitsche«, murmelte Gowers. »Wie breit sind die Striemen?«

»Eher schmal«, sagte Braddock. »Ich würde auf eine Peitsche tippen.«

»Gute Arbeit!« Van Helmont drückte seinem jungen Kollegen die Hand und deckte den Leichnam wieder ab. Gowers war der Letzte, der ihm in die Augen sah. George Barclay hatte alles gesagt, was er noch sagen konnte.

105.

Seine Lordschaft bemerkte eine deutliche Abkühlung im gesellschaftlichen Umgang an Bord. Kaum jemand sprach noch mit ihm, viele drehten ihm einfach den Rücken zu und schnitten ihn ganz offen. Er lachte nur darüber.

In Cambridge war es ähnlich gewesen, zum Schluss, aber es hatte stärker geschmerzt. Dort war seinesgleichen ihm aus dem Weg gegangen, hatten ihn Peers, die schönsten Früchte der hohen und mittleren Aristokratie, geschnitten. Hier waren es Commons, niederes Volk, ein paar Kaufleute, Offiziere, deren kaltes Schweigen der junge Lord eher als die allgemeine Sprachlosigkeit dieser Klasse ansah. Nach der Meinung der Seeleute schließlich fragte er genauso wenig, wie er nach der Meinung der Fische gefragt hätte, die zum Dinner auf seinem Teller landeten und ihn aus toten Augen anstarrten. Bis zu diesem Abend.