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Nicht so sehr, zu erraten, was man nicht weiß, sondern zu klären und zu ordnen, was man weiß und wissen kann, ist Ermittlungsarbeit. Also fragte John Gowers sich, wer Samuel und Emmeline Thompson waren, der eine, bevor er starb, die andere, ehe sie zu ihm kam. Und Emmeline Thompson, weniger reflektiert, unbewusst, fragte sich: Wer ist John Gowers?

12.

Als sie alles erzählt hatte – von ihrem Vater Samuel Thompson, der unterwegs gewesen war, um Gouverneur von St. Helena zu werden, der sich auf diese Aufgabe gefreut hatte wie seit Jahren auf nichts, seit seine Frau, ihre Mutter, gestorben war – als sie alles erzählt hatte, waren die Augen des Mannes noch immer geschlossen. Und obwohl er keine Miene verzog, hatte Emmeline Thompson das unangenehme Gefühl, dass er mehr wusste, als sie gesagt hatte.

Dieses Gefühl empörte sie. Sie hatte es zum ersten Mal als junges Mädchen empfunden, als im Verlauf einer hartnäckigen bronchialen Erkrankung ein Arzt ihre Brust abgeklopft und angesehen hatte. Zwar war sie diesmal nicht nackt. Aber dieser Detektiv oder Investigator oder wie immer er sich nannte, hatte auch nicht das vertrauenswürdige Alter oder den vertrauenerweckenden Bart wie der Arzt damals, der immerhin auch ihre Mutter behandelt hatte. Was wusste sie von John Gowers?

Nur, dass sein Name als erster gefallen war, als man ihr auf dem Polizeirevier gesagt hatte, dass man für einen Mord auf hoher See nicht zuständig sei, schon gar nicht an Bord eines englischen Schiffes und noch weniger bei dem dringenden Verdacht auf Selbstmord. Da würde sie sich einen privaten Ermittler suchen müssen. War Gowers Name als erster gefallen, weil er so gut war? Oder einfach, weil sein Büro in der Nähe des Hafens lag?

Er sah nicht sehr eindrucksvoll aus, eher harmlos, bis auf irgendetwas in seinen Augen, das sie beunruhigte. Er war allenfalls zehn Jahre älter als sie, kaum über dreißig, nicht besonders groß, nicht besonders kräftig. Nach seiner Kleidung und seinem Büro zu urteilen, nicht einmal besonders erfolgreich. Was würde so jemand schon tun können?

Gowers wusste, dass sie unglücklich war. Schon unglücklich gewesen war, als sie England verlassen hatte. Und auch schon zwei Jahre vorher, genau genommen seit dem Tod ihrer Mutter. Das war der Moment, in dem ihr Leben abknickte wie eine Blume. Bis dahin mochte es Verehrer gegeben haben, Konzerte, Tanzabende. Seither gab es nur noch einen trübsinnigen Vater, die Pflichten einer Haushälterin und die Aussicht auf zehn Jahre Verbannung auf einem Felsen im Atlantik. Nicht gerade das, was man mit zwanzig, zweiundzwanzig vom Leben erwartet.

»Also während der Überfahrt …« Gowers öffnete die Augen wieder.

»Vor einer Woche«, sagte Emmeline Thompson gereizt. Dann legte sie sekundenlang eine Hand auf ihren Mund, als würden ihr erst in diesem Augenblick die Kürze der Zeitspanne und die Tragweite der Tatsachen bewusst. »Mein Gott, erst vor einer Woche.«

»Wie genau … wodurch ist der Tod eingetreten?«

»Aufgehängt«, sagte sie sehr leise, entsetzt darüber, selbst auszusprechen, was sie nicht glauben wollte. Ihre Lippen begannen zu zittern, und wieder versteckte sie es in der hohlen Hand. »Sie sagten, er hat sich aufgehängt, aber das stimmt nicht. Er war nicht … so verzweifelt.« Die Worte kamen zunehmend schwerer, das Gewicht auf ihrer Brust wuchs, ihre Brauen zogen sich ein wenig zusammen.

Gowers, der schon einige treulose Ehemänner überführt und logischerweise mit ebenso vielen betrogenen Ehefrauen zu tun gehabt hatte, deutete diese Anzeichen richtig und bot ihr ein blütenweißes Taschentuch aus der obersten Schreibtischschublade an. Der Anblick kostete sie endgültig ihre Fassung. Ein sieben Tage lang zurückgehaltenes Schluchzen brach aus Emmeline Thompson heraus.

Gowers zog sich taktvoll zum Fenster zurück und sah hinaus. Erst als er den Geräuschen entnehmen konnte, dass sich seine Klientin wieder im Griff hatte, fragte er weiter.

»Wo? Ich meine, wo hat man ihn gefunden?«

Sie schien beinahe froh, dass es nun wieder um eine rein technische Angelegenheit ging, zu der ihr allerdings das Vokabular fehlte.

»An der … An diesem Ding …«

»An der Rah?«

»Ich weiß nicht, wie man das nennt, das Querding am Mast.«

Gowers war froh, dass er immer noch aus dem Fenster schaute, denn er musste unwillkürlich lächeln, als plötzlich alles vor ihm auftauchte: Royalrah, Bramrah, Marsrah, Großrah, Begienrah … Das Querding am Mast!!

England ist auch nicht mehr das, was es mal war, dachte er, als er sich wieder zu Emmeline Thompson umdrehte.

13.

Wenn es keine so gute Gelegenheit gewesen wäre, New York zu verlassen, hätte er ihr geraten, die Sache zu vergessen, nach England zurückzukehren und ihr Leben von vorn zu beginnen. Nichts war schwieriger, als irgendetwas ergründen oder gar beweisen zu wollen, was auf hoher See geschehen war. Aber Gowers sah sich bereits an Bord dieses Schiffes und ließ sich davon nicht abschrecken.

Samuel Thompsons Passage nach St. Helena war bezahlt, er würde also auf Kosten des Toten reisen – genau genommen sogar noch sieben Tage länger. Wieder hätte er ihr fast ins Gesicht gelächelt, denn so deutlich wie seit Jahren nicht mehr fiel ihm ein, dass sein Vater ein Schotte gewesen war. Wie konnte er der jungen Dame seinen Plan klarmachen?

Emmeline Thompson hatte schon viel von der Rücksichtslosigkeit und Geldgier der Amerikaner gehört. Der Dollar war ihre Moral, ihre Tradition, der Gott, dem ihre Gebete galten. Dass überhaupt jemand auf die Idee kam, am Unglück anderer Menschen Geld zu verdienen, hatte ihr im Verlauf der letzten peinlichen Minuten den Berufsstand der privaten Ermittler vollends suspekt gemacht, ihre anfängliche Empörung bestätigt. Dennoch leuchtete ihr seine Feststellung, dass eine sinnvolle Ermittlung nur an Bord des Schiffes selbst möglich sei, unmittelbar ein. Auch dass diese kaum in den anderthalb Tagen der New Yorker Liegezeit stattfinden konnte, begriff sie sofort. Warum hatte sie nicht selbst daran gedacht? Nun würde sie für diesen simplen Rat viel Geld bezahlen müssen.

Sein Angebot, die Reise aus diesem Grund mitzumachen, überraschte sie nicht nur so sehr, dass ihr Unterkiefer herunterklappte, es erschreckte sie auch. Wie viel um Himmels willen sollte denn das kosten? Als er eine lächerlich geringe Summe nannte, trank sie doch einen Schluck Portwein. Und als er das Fenster schloss, einen fertig gepackten Reisesack hinter dem Vorhang hervorholte und ihr auffordernde Blicke zuwarf, lachte sie trotz all ihrer Verzweiflung.

»Sie … Sie wollen sofort mitkommen!? Einfach so? Nach St. Helena?«

»Ja«, sagte Gowers schlicht, wenn er auch hoffte, den Fall schon früher aufzuklären.

Emmeline Thompson hatte schon viel von der zupackenden, spontanen Art der Amerikaner gehört. Dennoch lief ihr ein Schauer den Rücken hinunter, bekam sie Angst, dass sich die Haare in ihrem Nacken sträuben könnten – als ein Mann ihren Arm ergriff, der in weniger als fünf Minuten bereit war, seine ganze Existenz hinter sich zu lassen. Woher hätte sie wissen sollen, die lange so wohlbehütete Tochter, das Bürgerkind, dass er genau das seit frühester Kindheit gewohnt war?

14.

Das Stottern, Stocken seiner Klientin auf dem Weg zum East River Seaport und die Offensichtlichkeit, mit der sie sich fragte, wer von ihnen beiden den Tag nur träumte, brachten Gowers noch einmal zum Nachdenken. In erster Linie über seinen Plan, aber auch ein wenig über den bevorstehenden Fall.

Die Untersuchung hatte sich auf den Augenschein beschränkt. Auf einem Schiff fragte niemand lange nach möglichen Todesursachen, wenn ein Mann aufgeknüpft an der Großrah baumelte. Da die Kleidung des toten Samuel Thompson keinerlei Spuren eines Kampfes oder sonstiger Gewalteinwirkung aufwies, der Körper keine Kratzspuren, Platzwunden oder Ähnliches, schloss man auf allgemeinen Lebensüberdruss und ein zwar gewaltsames, aber durchaus freiwilliges Hinscheiden. Einen Reim darauf machte sich jeder, der schon mal auf St. Helena gewesen war oder davon gehört hatte.