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»Und nicht, wenn man einrechnet, über welches Material wir verfügen«, fuhr der hochgewachsene Offizier ungerührt nüchtern fort. »Ich möchte wetten, alles in allem ist unsere Feuerkraft mindestens doppelt so hoch wie die der Russen.«

»Mon Dieu«, mischte sich ein französischer Seemann ein, der als Melder von einer der eingeschlossenen Fregatten in der Roadstead kam und den die zehntägige Kanonade in den britischen Stellungen festhielt, »aber sie ’aben diese Turm, eh, diese Mauern. Und wir ’aben Zelte und, wie sagt man: sac de sable …«

»Sandsäcke«, übersetzte ein beinahe verhungert wirkender kleiner Aufklärer, in dem niemand den besten Kartenzeichner seines Regiments vermutet hätte. Der sommersprossige junge Herr der Traingäule fügte leise hinzu: »Manche in Leinwand und manche in Uniform.«

»Ich habe das gehört, junger Mann«, erregte sich wieder der Artillerist. »Was wollen Sie damit sagen?!«

Er wollte damit sagen, dass die vorgezogene siebte Batterie, ohne Munition und mit demolierten Geschützen, zum Schluss nur noch sozusagen Salut geschossen hatte: Böllerschüsse, um Pulverdampf zu erzeugen und so das russische Feuer auf sich zu ziehen. Ebendas hatte den Männern ihre Orden und den Spitznamen mad sandbags eingetragen. Der blondlockige Leutnant überlegte krampfhaft, wie er sich aus der durchaus duellträchtigen Situation herausreden könnte, aber zu seinem Glück hatte der Ärger der übrigen Briten soeben ein lohnenderes Ziel gefunden.

»Hee, Frenchy«, rief die Infanterie, »stimmt es eigentlich, dass die Russen euch auf dem Mamelon noch immer mit Lassos einfangen?!«

»Das ist kein Witz«, erwiderte zornrot der einsame Franzose auf seinem verlorenen Posten. »Das ist zutiefst unritterlich …«

»Sie haben sogar Parlamentäre an Todleben geschickt, damit er das lässt«, höhnten weiter die Füsiliere zu Fuß.

»Die kämpfen nicht wie Männer, die legen Schlingen und Netze, und wen sie sich ’olen, den zerstückeln sie mit ihre Messer! Das sind Tiere!« Einer der Gurkhas schaute kurz auf. Das Abschlachten von Menschen mit Nahkampfwaffen schien sein sportliches Interesse zu wecken.

»Da ist es schon besser, man hält den Buckel hin und lässt sich zusammenschießen.« Endlich lachte auch wieder der tapfere Corporal der vorgezogenen Nr. VII.

»Eh, warum ’abt ihr Briten nur eine so große Faible für aussichtslose Kämpfe?«, entgegnete mit vorsichtigem Spott der französische Melder.

»Die machen sich besser in den Geschichtsbüchern«, warf ironisch der englische Seemann ein. »Wir wenigen, wir glücklichen wenigen, was? Und wer liest schon gerne, dass er sich mit der geballten Materialmacht einer Industrienation auf einen wesentlich schwächeren Gegner geworfen hat?!«

»Sir, ich schwöre, noch so eine defätistische Bemerkung und ich …« Samuel Thompson war wieder aufgestanden.

»Ah, kommt, meine ’erren britische Löwen!«, beschwichtigte Louis Vivés. »Lasst uns von etwas anderem sprechen. Soll ich mal erzählen, wie …«

111.

Der Junge erwachte mitten in der Nacht, weil er fror, und weil er fror, wusste er, dass seine Mutter nicht zurückgekommen war und auch nicht da gewesen sein konnte. Sie hätte ihn sonst zugedeckt. Er zog die Decke selbst über seine Schultern, aber er schlief nicht mehr richtig ein.

Sobald er die Augen schloss, hatte er das Gefühl, sein Kopf sei ein riesiger, leerer Wagen, der eine steile Straße hinabrast und in dessen Innenraum nur zwei oder drei kleine Steinchen herumrollen. Er hörte sie rollen, lauschte auf das Geräusch und war plötzlich selbst ein kleiner Stein, rollte auf dem Bretterboden des großen Wagens herum, meilenweit hin und her, ohne es selbst zu wollen.

Nachdem er sich der Bewegung zuerst hingegeben hatte, das Um-und-um-Gedrehtwerden manchmal sogar lustig fand, versuchte er schließlich, sich festzuhalten, an seinem Platz zu bleiben. Er wurde aber immer wieder weggerissen, hin und her, ohne jeden Sinn und in alle Richtungen, und bekam schließlich Angst vor den unheimlichen blinden Kräften, Mächten, die mit ihm spielten. Seine Mutter hätte ihn festgehalten, ihn einfach in die Arme genommen, aber sie war nicht zurückgekommen.

Als es zu schrecklich wurde, machte er die Augen auf und wusste sofort wieder, dass er nur krank war. Krank und allein. Es war eine schwarze Nacht, ohne Sterne, aber er konnte im Dunkeln sehen. Schlich zu dem kleinen Fenster, öffnete es und hörte an den Geräuschen, dass es ungefähr drei Uhr nachts war.

Das Haus schlief, die Straße, die Nachbarschaft, aber er wusste, dass die Stadt wach war. Er hörte sie von fern her, leise wie ein großes Raubtier, das in der Nacht jagt. Das Knacken, Atmen, das ferne Grollen, manchmal den Todesschrei eines kleineren Tieres, eines einzelnen Menschen, einer nackten Seele.

Ben starrte fast eine Stunde lang hinaus in den finsteren Himmel über den elenden Dächern, von denen es Hunderttausende gab und von denen er keine drei sehen konnte. Unter den Dächern atmeten in dieser Stunde zwei Millionen Menschen, darüber drehte sich schwach der Rauch.

Wo mochte seine Mutter sein, da draußen im Dunkeln? Was hatte sie aufgehalten? Er schob diese Fragen bis zum Morgen auf und legte sich wieder schlafen. Er träumte nicht mehr in dieser Nacht. Nichts Böses und nichts Gutes.

Am nächsten Tag fühlte er sich zwar noch schwach, hustete manchmal, aber sein Kopf war völlig klar. Er war neun Jahre alt, und seine Mutter blieb verschwunden, obwohl er überall dort suchte, wo sie sinnvollerweise sein konnte, sogar bei den anderen fliegenden Händlern, Betrügern, Stadtzigeunern Londons nach ihr fragte. Die meisten wussten nicht einmal, wen er meinte. Und die es wussten, wussten nichts, hatten sie nicht gesehen und interessierten sich auch nicht weiter dafür. Jeden Tag verschwanden in der riesigen Stadt Menschen, wurden Kinder zurückgelassen, wer fragte danach?

Nur einer, sein Hehler für gestohlene Bücher, ein langhaariger, ungepflegter, zahnloser verkrachter Student des Jahrgangs 1810, sagte: »Schmiere! Hoppgenommen vielleicht. Würde ich mal in Newgate fragen oder im Fleet oder Middlesex!«

Ben klapperte am nächsten Tag die Gefängnisse und Polizeiwachen ab und hatte Mühe, von den ehrwürdigen Beamten auch nur gesehen zu werden.

»Wie heißt denn deine Mutter, Junge?«

»Jane Gowers. Oder Jane Williams.«

»O Jesus, du weißt nicht mal, wie deine Mutter heißt?! Warum suchst du sie dann? Hau ab und mach dir ein schönes Leben!«

Er konnte sich ein Leben ohne seine Mutter nicht vorstellen. Und musste doch daran denken, das Geld dafür zu verdienen. Der Wirtin sagte er, Jane sei zu Verwandten gefahren, und sie glaubte ihm, ein Wunder der Mildtätigkeit, sodass er das Zimmer noch eine ganze Woche behalten durfte.

Einer der Polizisten hatte einen bestimmten Verdacht geäußert, und Ben sparte zwei Pence an, um den Eintritt in die polizeiliche Morgue, das Leichenschauhaus von London, zu bezahlen. Immer wieder fielen täglich, wöchentlich so viele unbekannte Leichen, Ermordete, Erfrorene, Ertrunkene oder sonst wie zu Tode Gekommene an, dass die städtischen Behörden dazu übergegangen waren, für ihre Besichtigung Geld zu verlangen.

Es kamen vor allem Medizinstudenten, aber auch Schaulustige aller Art. Künstler, die sich keine Modelle, Junggesellen, die sich keine Huren leisten konnten. Kinder allerdings nicht ohne die Begleitung, den Zuspruch Erwachsener, denn viele der Leichen waren schauerlich anzusehen, meistens nackt, manchmal »schon etwas angegangen«, bisweilen auch nur in einzelnen Teilen vorhanden.

Diese Vorschrift galt natürlich nicht für Angehörige, die sogar ihre zwei Pence zurückerstattet bekamen, wenn sie im Gegenzug einen Verstorbenen identifizierten und die Kosten der Beerdigung übernahmen. Entsprechend wenig Leichen wurden identifiziert.

Ben schauderte bei dem Gedanken, seine Mutter hier zu entdecken, aber noch bevor er überhaupt hereindurfte, riet ihm ein Leichenwärter, der fast genauso blass war wie seine Kunden, es doch erst einmal in den Krankenhäusern der Stadt zu versuchen. »Vielleicht lebt deine Mutter ja noch. Und wenn nicht, kommst du wieder her!«