Der Mann drückte dem Jungen noch ein Formular in die Hand: Name, Datum, Personenbeschreibung, Todesart. Wenn er das quittiert von den königlichen Krankenhäusern zurückbrächte, bräuchte er keinen Eintritt zu zahlen, um in der Morgue nach seiner Mutter zu suchen. Niemand solle schließlich behaupten, dass es in der Hauptstadt des Britischen Empire beim Sterben irgendwie ungeordnet zuginge.
112.
Das Messer traf ihn von hinten, und Van Helmont wusste sofort, dass diese Wunde tödlich war. Er drehte noch den Kopf und sah kurz das dunkle Gesicht seines Mörders, der ihm völlig unbekannt war.
Ehe er durch den physischen Schock zusammensackte, spürte er noch ein Gefühl der Verwunderung über den Hass, den er in den Augen des anderen gesehen hatte. Den Hass, der ihn von hinten belauert hatte, vielleicht erst seit wenigen Stunden, vielleicht auch ein Leben lang. Vielleicht war es immer derselbe Hass. Aber wie kann man einen Menschen hassen, den man gar nicht kennt?, fragte er sich und gab sich auch selbst die Antwort: Man muss schon sich selbst hassen.
Als er wieder zu sich kam, lag er noch immer allein in seinem Hotelzimmer, umgeben von seinen unausgeräumten Koffern und Kisten. Ihm fiel wieder ein, dass er sich gerade gefragt hatte, wie er das alles ohne Gowers’ Hilfe wieder von hier wegbringen sollte. Nun war die Frage, was Gowers mit dem ganzen Zeug anfangen würde. Van Helmont lachte über diese jähe Änderung des Sachverhalts, oder vielmehr: Er wollte lachen und bemerkte dabei, dass sein linker Lungenflügel durchbohrt sein musste. Er bekam fast keine Luft und selbst das bisschen brannte in ihm wie Feuer.
Er versuchte, sich auf die Seite zu drehen, aber das gelang nicht. Dabei fühlte er, dass sein ganzer Rücken nass war. Als er zurückfiel, spürte er außerdem, dass das Blut, in dem er lag, bereits kalt war. Das war gut, denn es hieß, dass er eine ganze Weile ohnmächtig gewesen sein musste. Und nun konnte es eigentlich nicht mehr lange dauern.
Wo John blieb? Er musste John etwas Wichtiges mitteilen, keine Beobachtung, sondern eine Schlussfolgerung, die er aus seiner Verletzung gezogen hatte und die den Investigator beeindrucken würde. John musste das unbedingt wissen!
Van Helmont versuchte, ganz flach durch die Nase zu atmen, um die Schmerzen zu verringern und zu verhindern, dass mehr Blut als nötig in die Luftröhre geriet. Er wusste, dass es das Ende sein würde, wenn er hustete, denn dann würde er überhaupt keine Luft mehr bekommen und ersticken. Er hatte Erfahrung mit Lungenschüssen.
Saubere Arbeit, dachte er und lenkte sich durch eine medizinische Selbstdiagnose ab. Das Messer musste etwas zu weit links neben der Wirbelsäule sehr tief eingedrungen sein, irgendwo zwischen der vierten und fünften Rippe. Der Stoß hatte also seinem Herzen gegolten, aber er hatte sich wahrscheinlich im letzten Moment ein wenig gedreht. Dennoch ein durchaus gelungener Mord, soweit er das beurteilen konnte. Der Mann war kein Anfänger.
Bei Operationen war es ja nicht gar so schwierig, derart tief in den Brustkorb einzudringen, weil man natürlich die Rippen sah und die Patienten gemeinhin stillhielten. Aber so durch die Kleidung, rein nach Augenmaß und in beiderseitiger Bewegung, Chapeau!
Wieder schüttelte ihn eine seltsame Heiterkeit, und er fühlte, wie das Blut kitzelnd in seine Bronchien stieg. Mit unsäglicher Anstrengung unterdrückte er den Hustenreflex und konzentrierte sich ganz darauf, so flach wie möglich zu atmen. Jetzt konnte der verdammte Yankee allmählich auftauchen! Er hörte Stimmen auf der Treppe.
Als Gowers zurückkam, um die letzte Fuhre abzuliefern, die Kiste mit Van Helmonts Büchern, fand er das Hotel in heller Aufregung und den Arzt in seinem Blut – immer noch so liegend, wie er gefallen war, aber auch noch immer am Leben.
»Er will nicht, dass man ihn bewegt«, sagte ein völlig aufgelöster Hoteldiener. »Wir haben es schon versucht, aber er wehrt sich.«
Gowers kniete neben dem nur noch schwach atmenden Mann nieder, nahm seine Hand und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Doc, ich bin’s. Wollen Sie so liegen bleiben?«
Van Helmont schlug die immer noch wasserhell leuchtenden Augen auf und nickte leicht.
»Wer war es, Doc?« Gowers war sich der Dummheit seiner Frage bewusst, aber ihm fiel einfach nichts anderes ein. Der Sterbende verzog den Mund zu einem Grinsen, und auch Gowers lächelte.
»Schon gut, das wollten Sie auch gerade fragen!« Dann beugte er sich zu Van Helmonts Kopf hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der Arzt hob verwundert die Augenbrauen und nickte dann wieder. Unter qualvoller Anstrengung winkte er den Investigator noch einmal zu sich hinunter. Gowers hielt sein Ohr dicht an den Mund des Sterbenden und hörte deutlich die Worte: »Inder. Achtung. Linkshänder!« Dann schüttelte ein entsetzlicher Hustenkrampf den Körper des Arztes, er klammerte sich an Gowers’ Schulter und erstickte binnen einer Minute an seinem Blut.
»Ich werde ihn töten, Doc«, flüsterte Gowers so leise, dass niemand es hören konnte. »Ich werde beide töten.«
113.
Bedlam war eines der fünf königlichen Hospitäler, die es in London gab, und das letzte, das er aufsuchte, denn Bedlam war eigentlich kein Kranken-, sondern ein Irrenhaus. Heinrich VIII. hatte 1547 das Ordenshospital St. Mary of Bethlehem in eine Heimstätte für verwirrte Personen umgewandelt. Mehrfach erweitert und vor allem im 18. Jahrhundert ein beliebtes Ziel für Wochenendausflüge der besseren Gesellschaft – die für die exorbitante Summe von einem Shilling natürlich auch die Irren besichtigen konnte –, war es 1815 von Shoreditch nach Southwark an der Lambeth Road umgesiedelt worden, wo nun bis zu zweihundert Geisteskranke jährlich Aufnahme, wenn auch nicht unbedingt Hilfe fanden. Im Gegenteil war die Behandlung der Patienten von Bedlam immer wieder Gegenstand parlamentarischer Kontrollkommissionen, besonders seitdem auch die kriminellen Verrückten dort eingeliefert wurden.
Ben, der an diesem Tag schon im Chelsea, Christ’s, St. Bartholomew’s und St. Thomas’s Hospital gewesen war, kam erst am späten Abend nach Lambeth herunter und schlief, erschöpft von einer Woche fruchtlosen Suchens, in einer Nische der hohen Umfassungsmauer ein. Mit dem Sonnenaufgang wurde er wach, weil ein unheimliches, vielstimmiges Geheul hinter der Mauer den neuen Tag begrüßte.
Schüchtern zog er an der Glocke, die die riesigen Pforten unter sechs weißen, marmornen Säulen öffnen konnte, aber dann tat sich nur eine kleine Tür auf, die in diese Pforten eingelassen war. Eine Tür in der Tür, die er zuerst gar nicht bemerkt hatte. Eine Riesin in grauer Schwesterntracht beugte ihren Nacken durch die Türöffnung.
»Ja?«
»Ich suche meine Mutter, Jane Gowers. Sie ist klein und hat lange schwarze Haare. Ist sie hier?«
»Wann eingeliefert?«
»Ich weiß nicht genau. Vielleicht vor fünf oder sechs Tagen.«
»Klein, schwarzes Haar …« Die Riesin schien nachzudenken. »Lange Nase, keine Zähne, gewalttätig?«, fragte sie dann. Obwohl Ben das letzte Wort im Zusammenhang mit seiner Mutter noch nie gehört und noch nicht einmal gedacht hatte, sagte er: »Ja, das kann sie sein.«
»Hier ist eine Frau, die wir Raven nennen, wegen der Haare. Hat keinen Namen genannt. Auch sonst nichts gesagt, nur gespuckt und getreten.«
»Ich weiß nicht …«, sagte Ben, aber die Schwester fasste ihn scharf ins Auge, sein schwarzes Haar, sein müdes kleines Gesicht. »Könnte sein, könnte sein«, murmelte sie und winkte ihn über die Schwelle.
Sie war die größte Frau, die er je gesehen hatte, und sie schloss die kleine Tür hinter ihm mit einem von mindestens vier Dutzend Schlüsseln, die sie an einem riesigen eisernen Ring trug, wieder ab. »Für Raven, vielleicht!«, rief sie in einen stickigen kleinen Seitenraum hinein und winkte ihm wieder, ging vor ihm einen langen schmalen Gang hinunter.