Beinahe jedes Zeitalter hatte sich selbst für den Endzweck der Menschheitsgeschichte gehalten, aber erst dieses war schamlos und blöde genug, auch die eigene Vergangenheit für überflüssig zu erklären und nur noch Endzweck, Selbstzweck zu sein: aus sich und für sich, ausschließlich, und immer bereit, alles zu vernichten, was dieses Selbstverständnis in Frage stellte.
Das war die Welt, das Land, in die, an das die Welle ihn geworfen hatte, vom fernen Northumberland über die warmen und kalten, schließlich die gefrorenen Meere, die großen Städte, New York, New Orleans, London, den endlosen Fluss und den Krieg. Er lachte manchmal darüber, wie viele Leben in seinen noch nicht dreißig Jahren schon Platz gefunden hatten, denn Lachen war letztlich das Einzige, was man der Welle entgegensetzen konnte. Und dann fragte er sich wieder, mit aller Neugier, die ein Investigator, ein Ermittler, ein Detektiv aufbringen konnte, wann, wo und wie er seinen beiden Toden begegnen würde.
115.
Als er das Krankenhaus verließ, folgte ihm der Schatten, ein Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Eingang des Hospitals scharf beobachtet hatte. Der Schatten wartete geduldig auf den Moment, in dem sein Opfer in irgendeine dunkle Gasse einbog, einen lichtlosen Ort, wo er über ihn herfallen würde mit den anderen Schatten.
Er war ein Sikh, Mitglied jener indischen Kriegerkaste, die die Engländer erst vor ungefähr fünfzehn Jahren besiegt hatten und die sie immer noch fürchteten. Seit er denken konnte, hatte er gegen die weißen Teufel gekämpft oder gegen jeden, den sein Kriegsherr als Feind bezeichnete. Mit zwölf Jahren hatte er seinen ersten Gegner getötet und den eisernen Armring erhalten, der einen Krieger auszeichnete.
Mit der Niederlage gegen die Ostindische Kompanie brach seine Welt zusammen, gab es keinen Herren mehr, und ohne Schwert und Turban, wehrlos, ehrlos, wie entmannt durch die langen Reihen der widerlichen Sepoys und Gurkhas zu gehen war so demütigend, dass er beschloss, nun sein eigener Herr zu sein. Er ging in das Land der Schwarzen. Und weil er vielen Herren diente, konnte er sich einreden, keinen zu haben. Er wurde ein Söldner im endlosen Krieg der Burenfarmer gegen die Xosa und Griquas, gegen die schwarzen Teufel. Leicht zu jagende Beute, träge in Hirn und Herz, langsam in allen Bewegungen, allenfalls ausdauernd.
Er wurde ein gedungener Mörder. Da er nicht mehr mit dem Schwert töten durfte wie ein Singh, ein Löwe, und da er Feuerwaffen verabscheute, deren Gebrauch ihm ehrlos, unmännlich erschien, wurde seine Lieblingswaffe der Kris, jener schlangenförmige Dolch aus den sumpfigen Inseln im Süden, der ihn seiner mystischen Form wegen schon als Kind fasziniert hatte. Der Kris symbolisierte den Weg eines Mannes im Leben, und er hatte zwei Schneiden.
Gowers hatte die Angelegenheiten des Arztes, so gut es ging, geordnet. Da Van Helmont in Südafrika keine Angehörigen hinterließ, keine Freunde, ja nicht einmal Bekannte, setzte Gowers sich selbst kurzerhand als Universalerben ein. Den Inhalt der großen Bücherkiste verkaufte er bis auf ein Buch und finanzierte mit dem Erlös die Beerdigung samt Sarg, Trägern und Pfarrer. Dass er eine erhebliche Summe übrig behielt, hätte der Arzt ihm nicht übel genommen. Beim Durchschauen des Gepäcks fand er außerdem eine Pfeife und eine enorme Menge Tabak.
Verdammter Sezessionist, dachte Gowers, schwimmt in echtem Virginia und raucht mir meine Zigarren weg!
Er ging durch, was er an Papieren fand, und legte dem Toten ein kleines Bündel Briefe mit ins Grab. Er hatte sie nicht gelesen, nur kurz gesehen, dass es die Handschrift einer Frau war. Aber diese Geschichte sollte Van Helmonts Geschichte bleiben. Denn hatte nicht der Arzt alle Brücken hinter sich abgebrochen? Er wollte ins Unbekannte aufbrechen. Dass er dabei derart erfolgreich sein würde, hatte er sicher nicht eingeplant, aber ebenso sicher auch nicht gefürchtet. Wer dem Tod so oft begegnet war wie Van Helmont, wusste, dass alles Leben und Lieben, Kämpfen und Töten auf Erden nur ein ohnmächtiges Streben nach Dauer ist.
Das künstliche Bein legte er dem Toten nicht an, sondern brachte es als ärztliches Vermächtnis mit all den anderen medizinischen Geräten und Medikamenten ins Krankenhaus, damit es möglichst bald wieder seinen Zweck erfüllte. Zwar war es eine Maßanfertigung, aber die würden sich bei einer der nächsten Amputationen schon den passenden Krüppel zurechtsägen. Als dann aber der Pfarrer leiernd von der Auferstehung des Fleisches redete, hätte Gowers beinahe gelacht.
Ein Bein in Shilo, der Rest in Kapstadt, dachte er. Sie werden denen beim Jüngsten Gericht ganz schön Ärger machen, Doc!
116.
Auch der zweite Weiße verhielt sich sorglos wie ein Kind. Ein Kinderspiel, ihn zu töten, fast keine Aufgabe für einen Singh, einen Löwen, aber sehr gut bezahlt. Nachdem der Weiße das Krankenhaus verlassen hatte, schlenderte er herum wie ein Weib, das nicht weiß, wo es hinwill. Dann ging er in das Haus, wo die weißen Teufel das Papier aufbewahrten.
Er wusste um die Macht des Papiers in der Welt der Weißen, seine Zauberkraft. Ein Papier, im fernen England geschrieben, konnte hunderttausend Männer in Bewegung setzen, Dörfer zerstören, Völker entwurzeln. Er hatte es selbst erlebt, im Punjab und später hier, als die Buren auf ihre großen Trecks zogen, gejagt vom Papier der Engländer. Dennoch verachtete er das Papier. Es war ehrlos, unmännlich. Und es roch nach der kleinen weißen Frau, vor der alle Engländer im Staub lagen.
Geduldig auf den Fersen hockend, wartete er, bis sein Opfer wieder aus dem Haus der Papiere herauskäme; ein sicherer, ruhiger Mann, ein Könner in seinem Fach. Er tötete gleich gut bei Tag und bei Nacht, es lief auf das Gleiche hinaus. Und sein Kris hatte eine geschwärzte Klinge, damit kein Funkeln, kein Glanz den Mörder verriet.
Gowers war noch einmal an Bord gewesen, hatte sich aber gehütet, vom Tod des Doktors zu erzählen, so schwer ihm das auch gefallen war. Unter dem Vorwand, die letzten Kleinigkeiten Van Helmonts zu holen, hatte er sein eigenes Bündel aus der Kabine geschafft und trug nun die ausgebleichte Offiziersmütze, die er seit dem Krieg in allen Kämpfen getragen hatte. Im Marinearchiv fand er ziemlich schnell, was er suchte, fand alles bestätigt, was er bis dahin nur vermutet hatte, und konnte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit dem gedungenen Mörder zuwenden, der draußen auf ihn wartete, um ihn zu töten.
Er hatte die Stadt studiert auf seinem Weg vom Krankenhaus zum Archiv, ihre Straßen, Häuser, kleinen Gassen. Noch einmal schaute er jetzt aus allen Fenstern, plante und wartete, bis es dunkel genug war.
Der Weiße streckte sich und gähnte, als hätte er recht lange über den Papieren gesessen und sei nun satt von ihrem Zauber. Noch immer schlenderte er hin und her wie ein Betrunkener, blieb auch manchmal stehen, schaute verwirrt in verschiedene Gassen. Der Idiot wird sich völlig verlaufen!, dachte der Sikh, als der Weiße plötzlich kurzentschlossen um ein halbes Dutzend verschiedene Ecken bog. Und dann war er verschwunden.
Irritiert wie nur je ein Mörder ohne Opfer huschte der Singh, der Löwe, hin und her, als wollte er Witterung aufnehmen. Die Schatten waren schon hoch über die Dächer gekrochen, der Himmel war dunkel.
»Guten Abend, Punjabi«, sagte Gowers, der nur zwei Schritte hinter ihm stand.
117.
Wie jeder siegreiche Feldzug des Britischen Empire hatten auch der Krieg auf der Krim und der Fall von Sewastopol mehr Helden übrig gelassen, als man bezahlen konnte. Länger als ein Jahr – zwischen dem Frieden von Paris und dem Ausbruch der indischen Rebellion – gingen wieder Tausende abgedankter Soldaten und Offiziere auf Halbsold in den großen Städten ihrer ziellosen Wege. Sicher war ihre Zahl kleiner und ihre Not zumindest weniger groß als vierzig Jahre zuvor, nach dem Sieg über Napoleon. Industrie, Handel, Verwaltung, die Kolonien, die ganze prosperierende Mitte des 19. Jahrhunderts bot den weniger wählerischen unter ihnen durchaus Lohn und Brot. Aber insbesondere Frontoffiziere, die Blut vergossen, Männer ins Feuer geschickt, fremdes Leben in ihren Händen gehalten hatten, empfanden ein gewisses Recht darauf, wählerisch zu sein, und konnten sich nicht dareinfinden, in Handelskontoren, Amtsstuben und dergleichen mit der Bitte um Anstellung vorzusprechen.