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Hartnäckig war ein Kolonialbeamter namens Thompson, der angeblich sogar eine Reise nach St. Helena ins Auge gefasst und nur wegen fehlender Mittel wieder aufgegeben hatte. Ein Einziger, Aufklärer, Kartenzeichner, hatte den Gerüchten zufolge die Archivrecherchen bereits abgeschlossen und konkretere Schritte auf dem Weg von Waterloo nach Paris unternommen. Für die meisten war es nach wie vor nur ein Hobby, eine Liebhaberei. Nur Mad Hatter beschloss in dieser Nacht, allein in seinem kleinen Pensionszimmer, dass Napoleons Schatz, ob vorhanden oder nicht, sein Eigentum war, das er nicht zu teilen gedachte und mit allen Mitteln verteidigen würde.

Nachdem er wenig später das Schiff entdeckt und seine Geschichte erforscht hatte, kostete es ihn noch fast zwei Jahre hartnäckiger Wühlarbeit, zahllose Eingaben, Petitionen, Fürsprachen, bis er an Bord und endlich auch wieder auf See war.

122.

Es war ein Spätsommertag, dessen schwere, kraftstrotzende Schönheit man atmen konnte. Die Leinen der Takelung schnurrten in einem schon frischen, aber noch nicht schneidenden Wind. Männer aller Hautfarben trugen Nahrung, Frachtgut, Ballast über mehrere breite Ladeplanken auf den Rücken des Schiffes, in seinen Bauch.

Auf einem Fass, ein Bein lässig aufgestellt und bequem an einen Stapel großer Holzkisten gelehnt, saß ein baumlanger Kerl von ungefähr vierzig Jahren, mit feuerroten Haaren, die sich auf der Stirn schon merklich gelichtet hatten. Er überwachte das Laden mit Blicken, die schläfrig schienen. Ben hielt ihn für den Kapitän, schlich eine Weile unschlüssig um ihn herum und blieb schließlich mitten in seinem Blickfeld stehen.

»Was willst du, Junge?«, fragte der Mann, und es klang eher so, als hätte er gesagt: »Verschwinde von hier!«

»Ein schönes Schiff, Sir«, sagte Ben, der glaubte, mit einem Kompliment weiterzukommen.

»Wirklich?«, antwortete der Mann ironisch. »Also jetzt, wo du’s sagst … Ja, sie ist eigentlich ganz hübsch.« Einige der Leute lachten leise über diese Bemerkung ihres Offiziers, woraus ein erfahrenerer Beobachter als Ben geschlossen hätte, dass er ein Mann war, den man respektierte, aber nicht fürchtete.

»Wohin fährt das Schiff?«, fragte der Junge schüchtern, und sein Blut begann laut in den Schläfen zu klopfen.

»Westindien«, knurrte jetzt wieder der rothaarige Seemann.

Ben schluckte seine Aufregung herunter, verschränkte die Arme vor der Brust, damit sein Herz nicht herausfiele, und sagte ruhig: »Ich würde gern anheuern, Sir.« Und nach einigen Sekunden, als er glaubte, der Mann hätte ihn nicht verstanden oder gehört, wiederholte er noch einmaclass="underline" »Ich möchte anheuern!«

»Deine Mutter wird dir den Arsch versohlen«, war die bedächtige, aber bestimmte Antwort.

»Meine Mutter ist tot, Sir.«

Der Mann sah ihn jetzt zum ersten Mal wirklich an, musterte ihn von oben bis unten, und Ben richtete sich unwillkürlich auf, um dem Blick standzuhalten.

»Zu klein!«, entschied der Seemann knapp und stand auf, um den Jungen einzuschüchtern. Tatsächlich überragte er Ben um fast einen Meter und reckte sich ausführlich, um es ihn noch deutlicher fühlen zu lassen. Legte aber auch zwei Hände auf die Hüften, die, obwohl stark und fest, doch eher einem Gelehrten gehörten als einem Seefahrer. »Hörst du nicht? Du bist zu klein! Verschwinde endlich!«

Es traf ihn wie ein Schlag, und wie ein Schlag weckte es seinen Zorn. Auch Ben legte die Hände auf die Hüften und sagte herausfordernd: »Ich bin stark, Sir!«

Der Mann verlor allmählich die Geduld, ging ein paar Schritte weiter weg und murmelte dabei: »Noch ein Wort, und ich versohl dir den Arsch. Hau ab!«

»Ich kann gut arbeiten.«

»So siehst du aus!« Keine Schuhe, schmutzig und verlaust, die Augen entzündet, in Lumpen gehüllt, einen klaren Weg in den Abgrund vor sich. Immer wieder kamen solche Jungen, manche größer, manche kleiner, die Schwindsucht schon in den Knochen, und taten so, als könnten sie dem Teufel ins Maul spucken. Und dieser da müsste sich sogar dazu auf die Zehenspitzen stellen! Gut zu wissen, was da zu tun und zu sagen war.

Der rothaarige Offizier trat gegen einen Haufen Säcke, die noch nicht verladen waren, und sagte, wohl wissend, dass das unmöglich war: »Wenn du so einen Sack an Bord tragen kannst, bist du angeheuert.«

Ben sah sich die Säcke an, auf denen Newcastle Trading stand und von denen jeder einzelne größer war als er selbst. Er zog ein wenig an einem Zipfel, aber genauso gut hätte er versuchen können, die Erde selbst hochzuheben. Es waren beinahe zwei Zentner, selbst erwachsene Männer trugen sie zu zweit, wenn es irgendwie ging. Der Rothaarige drehte sich nicht mal um, um zu sehen, wie der geschlagene Junge davonschleichen würde. Ben legte eine Hand auf den groben Stoff und fühlte vertraute Formen, Ecken, Kanten, Spitzen. Es war Kohle.

Als er auf die Knie fiel, lachten einige der Männer laut. Danach achtete niemand mehr darauf, wie Ben, fast auf dem Bauch liegend und links und rechts Staub aufwerfend, unter einen der schweren Säcke kroch, der halb an den anderen lehnte. Aber schon als er auf Händen und Knien war, starrten alle wieder auf das ungewöhnliche Schauspiel, und es lachte jetzt niemand mehr.

Er verschwand beinahe unter seiner Last, als er endlich stand, das entsetzliche Gewicht drückte seinen Kopf, sein Gesicht bis auf seine Knie hinunter. Die großen Adern am Hals, auf den Händen schwollen an, und es wurde totenstill auf dem riesigen Pier.

»Lasst ihn durch! Macht ihm Platz!«

Ben hörte nur noch die Stimme, aber er sah den Offizier nicht mehr. Sah nur noch den Boden und seine nackten Füße durch die Blitze, die hinter seinen Augen zuckten. Langsam, unendlich langsam tastete er sich vor, hob kaum die Füße, scharrte nur, schob den Staub zusammen, der schnell seine nackten Zehen bedeckte, und kam doch allmählich vorwärts. Wäre er hingefallen, die ungeheure Last hätte sein Rückgrat zerbrochen unter den nachlassenden kleinen Muskeln.

Die Planke, die ihm eben so breit vorgekommen war, lag jetzt vor ihm, schmal wie ein Faden, nur eine Hühnerleiter. Darunter das ölig schillernde Wasser schmatzte, leckte zu ihm herauf. Es ähnelte den Geräuschen eines fetttriefenden Mundes.

Ein Schwanken, ein falscher Tritt, und es würde zu Ende sein. Er würde bis zum Mittelpunkt der Erde sinken, er fühlte den weichen Schlick schon in seinem Gesicht und blieb hoffnungslos stehen. Da senkte sich plötzlich das Schiff in den anschlagenden Wellen, als wollte es ihm helfen, ihn einladen, und er stand auf der Planke. Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Wasser, trafen seine Augen, kitzelten ihn unter der Nase. Die Wellen wiegten ihn, fast wurde der Sack dabei leichter.

Aber oben wartete ein unüberwindliches Hindernis auf ihn, die Stufe hinunter auf Deck, die er unmöglich gehen konnte, denn für den Bruchteil einer Sekunde hätte er dazu auf einem Bein stehen müssen. Er war müde, er würde stürzen, der Sack würde sein Genick brechen, seinen Schädel knacken wie ein Vogelei.

Er fühlte, wie seine Beine wegrutschten, wie er fiel, auf dem Deck aufschlug. Aber seine Last fiel nicht mit ihm. Der Offizier, der ihm zuletzt mit schnellen Schritten gefolgt war, hielt den Sack fest, warf ihn neben dem Schanzkleid zu Boden.