An allen Gliedern zitternd vor Anstrengung, zog sich der Junge auf ein Knie hoch. Er wäre gleich wieder umgefallen, wenn ihn der Mann nicht am Kragen gepackt hätte.
»Vorsicht, Sir. Er hat bestimmt Läuse!«, rief eine belustigte Stimme.
»Ja, er hat Läuse«, murmelte der Offizier, der ihn festhielt. »Und er hat Courage, verdammt noch mal! Wie heißt du, du Zwerg?«, fragte er laut.
Der Junge sah nur noch zuckende Blitze, Sonnenstrahlen in der Dunkelheit hinter seinen Augenlidern. Und das letzte Wort seiner Mutter klang gellend in seinen Ohren.
»John«, keuchte er, »John Gowers.« Und während er die Nase hochzog, fragte er keck zurück: »Und wie heißen Sie?«
Der Offizier lachte dröhnend auf ihn herab, aber es war kein ironisches Lachen mehr. »First Lieutenant Robert McClure«, sagte er. »Willkommen an Bord, Master Gowers. Geh jetzt nach achtern und sag dem Koch, er soll dir was zu essen geben. Und ein paar Ohrfeigen, damit du lernst, wie man mit einem Offizier spricht!«
Taumelnd ging er nach hinten, tastete sich an der Reling entlang. Es sah aus, als müsste er sich stützen. Und nur der Junge wusste, dass es ganz anders war. Dass er sich festhalten, festklammern musste, weil er so leicht war. Leicht wie eine Feder, die der Wind fortträgt.
123.
Auf der ersten Reise hatte er an Bord noch nicht systematisch gesucht, jedenfalls nicht bis St. Helena. Als er dort ankam, war Longwood House zu seiner großen Enttäuschung bereits in französischem Besitz; sehr schwer, da oben herumzustöbern. Aber Mad Hatter hatte viel darüber gelesen und noch mehr darüber nachgedacht und war inzwischen davon überzeugt, dass der Schatz nie auf St. Helena gewesen war. Wie hätten die Verbannten das auch anstellen sollen? Die Generalsfrauen, letzten Mätressen des Kaisers von Frankreich mochten bisweilen einzelne Diamanten aus ihren Miedern und Dessous hervorgeholt haben. Vielleicht, um eine mögliche Flucht Napoleons von St. Helena zu finanzieren, vielleicht auch nur als Symbol für vergangene, bessere Tage, er wusste es nicht. Nur dass der französische Staatsschatz schlecht zwischen ihren Brüsten, Schenkeln, Achselhöhlen Platz gefunden hätte, war Fakt.
Er war ein nüchterner Mann und hielt sich viel darauf zugute, dass er Menschen und Situationen meist zuverlässig im Voraus berechnen konnte. Natürlich war das ein Vergnügen, waren das Triumphe, die er mit niemandem teilen konnte. Er legte sogar Wert darauf, dass man ihn in dieser Hinsicht unterschätzte, denn das gab ihm Macht über seine Umgebung, ohne dass sie es wusste. Er beobachtete, wartete ab. Und wenn niemand mehr damit rechnete – aus Bequemlichkeit, einfach, weil die Menschen irgendwann aufhören wollen zu rechnen, zu planen –, machte er seine Züge, legte er die Bahnen fest, in denen sich die Dinge bewegen mussten.
Auf See, im dunklen Schiffsbauch, suchte er nicht nach einem Schatz. Er suchte einen Namen, ein Codewort, einen Kassiber vielleicht oder eine Karte. Das seltsame Frauenzimmer, die Witwe Abell mit ihrem Maßband und ihren Büchern, mer, die Witwe Abell mit ihrem Maßband und ihren Büchern, hatte ihn erst darauf gebracht: Gab es nicht zahllose Verstecke an Bord für die wenigen Buchstaben, für das eine Wort? In die Planken geritzt, beim Kalfatern versteckt, zwischen Teer und Werg verborgen? Jetzt, nachdem alle Hindernisse beseitigt waren, konnte er die Suche auch wieder mit der Systematik betreiben, von der er nie abwich. Sein Leben lang war er klaren Konzepten gefolgt, wenn er auch selten wusste, wohin. Aber wer weiß das schon?
Gowers hatte Lucias Zeichnungen in sein Gedächtnis geprägt und wusste genau, wo die improvisierten Kabinen der Bertrands, Montholons, der Las Cases’ und vieler anderer vor einem halben Jahrhundert gewesen waren. Er wusste, wo der Mörder früher oder später auftauchen würde, und er wusste jetzt auch, dass er einen Verrückten jagte. Musste man nicht verrückt sein, um für ein Hirngespinst zu morden?
»Die Verrücktesten kommen auf diese Insel«, hatte Lucia gesagt, aber sie hatte unrecht. Die Verrücktesten suchten an Bord der Northumberland nach Hinweisen auf ein Vermögen, das seit mehr als fünfzig Jahren aufgezehrt war, buchstäblich verzehrt.
»Die Armee marschiert auf ihrem Bauch.« Dieser Satz wurde dem General Wellington zugeschrieben, aber keiner kannte ihn besser als der General Bonaparte, der erste Konsul von Frankreich, Napoleon I., der große Korse. Und was immer er erbeutet oder gestohlen haben mochte in zwanzig Jahren, in Italien, Ägypten, Spanien, Russland, er hatte es wieder in diesen unersättlichen Bauch gesteckt, um noch mehr zu stehlen.
Sicher, er hatte seine Mutter versorgt, seine Brüder und Schwestern, Josephine hatte viel ausgegeben, aber er, die korsische Halbwaise, auf einer Kanone groß geworden? Er war arm geblieben wie Cäsar, als er den Rubikon überschritt. Musste Kriege führen, weil man im Frieden seine Rechnungen geprüft hätte, hatte sich zum Kaiser gekrönt, um dem Schuldgefängnis zu entgehen.
Aut nihil aut Caesar11 – über diesen Satz lachten sie wahrscheinlich schallend im Pantheon der Piraten, schlugen sich Alexander, Wallenstein, Wilhelm der Eroberer, Napoleon und der große Julius selbst vermutlich auf die Schenkel oder stießen einander in die bleichen Gerippe, weil nur sie wirklich die profane Wahrheit kannten, die darin steckte.
124.
Inzwischen kannte Mad Hatter die Laderäume der Northumberland auswendig. Dennoch benutzte er jetzt, wo endlich wieder Ruhe eingekehrt war, eine kleine Laterne, um systematisch alle Ritzen und Wände abzuleuchten auf der Suche nach seinem Zauberwort. Obwohl oder gerade weil er auf seiner ersten Reise buchstäblich nichts gefunden hatte, waren sein Misstrauen und seine Eifersucht dabei so groß geworden, dass er anfing, seine möglichen Konkurrenten zu beseitigen. Jackson in Paris, Turner in Brighton, drei hier an Bord.
Waren es nicht auch überdeutliche Anzeichen einer Verschwörung, dass Thompson und Vivés beinahe gleichzeitig an Bord der Northumberland aufgetaucht waren? Konnte das Zufall sein? Viel wahrscheinlicher war doch, dass seine Anwesenheit auf dem Schiff sich herumgesprochen hatte und dass die Geier kamen, um sich zu holen, was ihm gehörte. Auch wenn es bisher lediglich eine Idee war, die vor ihm noch keiner gehabt hatte.
Samuel Thompson? Ein übler Verräter. Gleich am ersten Abend an Bord war er in seine Kabine gekommen und hatte gewagt, ihm zu drohen. Wollte ihn bloßstellen, aller Welt von diesem Wahnsinn erzählen, und war doch selber so nackt in seiner Habgier, dass er auf St. Helena den Gouverneur spielen wollte.
Der Franzose? Ein erbärmlicher Schwätzer. Ein Narr, der sein Leben nicht lebte, sondern immer nur davon redete, es irgendwann zu leben. Der Junge? Er wusste nicht, was der Junge wusste, herausgefunden oder erzählt hatte, hier musste er einfach auf Nummer sicher gehen. Und musste nicht die Art seiner Morde – nach Seerecht – alle möglichen Mitwisser abschrecken? Er wusste nicht, wer die Mitwisser waren. Daniel Thompson und den fetten Kaufmann hatte er im Verdacht, aber beide waren in Kapstadt von Bord gegangen, und auch den alten Schnüffler war er dort losgeworden. Nur er war übrig geblieben. Er wusste nicht, ob es einen Schatz gab, ein Ziel all dieser Taten. Aber wenn es eines gab, gehörte es ihm, allein ihm.
Das Irrlicht war jetzt nur noch etwa sieben Meter von Gowers entfernt und beleuchtete die Silhouette einer hochgewachsenen Gestalt, die er nur von hinten sah. Aber er wusste, wusste aus dem Archiv in Kapstadt, aus Lucias Bericht und nach vielen, vielen Überlegungen, Kombinationen, wer da weit nach Mitternacht im Bauch des uralten Schiffes rumorte. Er schlich lautlos ein paar Schritte näher heran. Das Messer zitterte in seiner Hand bei dem Gedanken, diese Kreatur von hinten zu töten, binnen einer Sekunde, ehe sie wusste, wie ihr geschah. Aber wem würde das Frieden bringen?