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»Guten Abend, Kapitän!«, sagte John Gowers.

125.

Radcliffe fuhr mit einem kleinen Sprung herum, und es freute Gowers bereits, den schweren Mann so erschreckt hopsen zu sehen wie ein kleines Mädchen. Aber der Kapitän fing sich schnell wieder.

»Guten Abend, Mr. Thompson. Sie haben die unangenehme Eigenschaft, mehr Leben zu besitzen als normale Menschen. Ihre Mutter war eine Katze, nehme ich an?!«

»Meine Mutter war eine Pfarrerstochter aus Benwell am Tyne«, erwiderte Gowers, »und ich heiße nicht Thompson!«

»Die Sikhs sind auch nicht mehr, was sie mal waren«, schnaufte Radcliffe verächtlich, um das Thema zu wechseln. »Als wir sie 49 massakriert haben, hätten Sie sie sehen sollen! Heulende Teufel und gingen heran, als wären sie nicht aus Fleisch und Blut. Liefen die Hänge herunter wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Sie haben ihn umgebracht, wie?«

»Ich bedaure, dass ich für diese Fehlinvestition ihrerseits verantwortlich bin, ja.«

»Alles muss man selber machen«, sagte der Kapitän und zog eine Pistole aus seinen weiten Manteltaschen, mit der Gowers nicht gerechnet hatte.

Unlogisch, dachte der Investigator enttäuscht. Eigentlich hätte der Mann sich jetzt sicher fühlen müssen. Aber insgeheim wusste er, dass ihn seine Jagd ganz zuletzt so leichtsinnig gemacht hatte, dass er vergaß, wie schnell man vom Jäger zur Beute werden kann.

»Das haben Sie schon einmal versucht, Sir«, sagte er so gelassen wie möglich.

»Nein, schon öfter. Aber geklappt hat es offenbar nur bei dem alten Quacksalber«, verbesserte Radcliffe.

Es blitzte in Gowers Augen, aber der eher ruhige als spöttische Blick des Mörders sagte ihm, dass der Hohn wohlüberlegt war. Radcliffe wartete nur darauf abzudrücken, und wenn es wie ein Kampf aussah, würde er weniger Schwierigkeiten haben, die Situation zu erklären. Von mir würde dann nichts weiter übrig bleiben als die Leiche eines blinden Passagiers, dachte Gowers und wusste gleichzeitig, dass er nur noch eine Chance hatte, wenn es ihm gelang, die Lampe zu löschen. Ein Tritt, ein Sprung – er würde mindestens eine Kugel abbekommen, aber mit etwas Glück wäre sie nicht tödlich und der Mörder in seiner Hand!

Der Kapitän schien seine Gedanken zu lesen und machte vorsichtig ein paar Schritte nach hinten und zur Seite, bis eine riesige Teekiste zwischen ihnen stand. Gowers konnte deutlich den Firmennamen lesen, der in die Seitenwand eingebrannt war, und fragte sich, wer eigentlich verrückt genug war, Tee nach Indien zu liefern.

»Sie wissen natürlich, dass alles ganz sinnlos ist«, sagte er, vielleicht von dieser Beobachtung inspiriert. »Es gibt keinen Schatz!«

»Vielleicht nicht, vielleicht doch«, erwiderte der Kapitän ungerührt. »Und wenn es ihn gäbe, wäre keine einzige meiner Handlungen sinnlos, sondern …«

»Völlig logisch«, ergänzte Gowers. »Ich verstehe auch beinahe alles. Ich nehme an, Louis hat Sie auf den Gedanken gebracht.«

»Uns beide, Thompson und mich. Und noch ein paar andere. Erzählen konnte er wirklich gut.« Radcliffe lächelte in der Erinnerung. »Darin war er groß. Aber er hatte auch ein gutes Thema, wissen Sie. Einen Friedhof, eine geheime Gruft, unterirdische Gänge, er hat sich da leider nie so genau festgelegt. Aber wer immer den Plan kennt, den Namen, der auf dem Grabstein steht, erbt den Reichtum zweier Kontinente.« Das Lächeln wurde ironisch.

»Sie glauben selbst nicht daran?«, fragte Gowers.

»Es kommt nicht darauf an, was man glaubt, sondern was man tut.«

»Nun, Sie waren der Erste, der auf dem Schiff gesucht hat, schon auf der letzten Reise. Und Sie dachten, Sie hätten Zeit. Bis plötzlich diese beiden Kerle an Bord auftauchten, nicht wahr. Alte Bekannte, von Sewastopol her.«

»Woher wissen Sie von Sewastopol?« Radcliffe wirkte jetzt ernsthaft überrascht.

»Sie haben mir selbst davon erzählt, Sir, wissen Sie nicht mehr?«

»Natürlich. Die Hochzeit, das Knallbonbon.« Der Mörder lächelte, wie man eine eigene kleine Dummheit belächelt. »Man muss doch immer noch mehr darauf achten, was man erzählt. Und wem.«

»Ich nehme an, Thompson hatte von Vivés erfahren, dass Sie Kapitän der Northumberland geworden waren. Wollte er Sie erpressen?«

»Schlimmer!« Der Mörder machte eine kleine Pause, beinahe als wolle er um Verständnis bitten: »Er wollte mich verraten!«

»Deshalb haben Sie ihn an die Rah gehängt, nach Seerecht. Völlig logisch, wie gesagt. Merkwürdig, dass ich erst so spät darauf gekommen bin. Und den Jungen über einer Kanone geprügelt, zumindest sollte es so aussehen, nicht wahr? Seerecht. Eine Disziplinarmaßnahme, falls Louis noch anderen Leuten an Bord von der Sache erzählt hätte. Aber wie war das mit der Peitsche?«

»Er hatte sie bei sich, als er von dieser widerlichen Kreatur kam. Es sollte gewissermaßen so sein.« Der Kapitän seufzte, als würde ihn das Gespräch allmählich erschöpfen. »Sie sind ein interessanter Mann, Mr. …«

»Gowers.«

»Interessanter als die meisten, wirklich.« Radcliffe hob mit der linken Hand die Lampe, hielt sie seitlich am ausgestreckten Arm, damit ihn das Licht nicht blenden konnte. »Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?«

Gowers überlegte fieberhaft, wie er noch einmal näher an das Licht und den Mann herankommen könnte. Zumindest wird dieser Bastard mehr als eine Kugel brauchen, schwor er sich.

»Nur noch eine Frage, Sir.« Er trat näher heran. Radcliffe hob schon die Waffe, aber Gowers nahm beschwichtigend die Hände hoch.

»Warum der Arzt?«, fragte er.

»Nun«, Kapitän Radcliffe lächelte, als sollte es eine Entschuldigung sein. »Ich war mir nicht sicher, wer von Ihnen beiden der Detektiv ist.«

»Investigator«, sagte Gowers. »In Amerika sagen wir: Investigator!«

Niemand sprach mehr, nicht der Mörder und nicht das Opfer.

Und als Gowers in seinen Augen sah, dass er abdrücken würde, als er schon begonnen hatte, sich zur Seite zu werfen, schoss plötzlich ein nackter, sehniger Arm aus dem Dunkel, die gekrümmte Klinge eines Kookree durchschnitt Muskeln, Adern, Sehnen, den Hals des Kapitäns, und Radcliffe sackte, eine schwarze, schwerfällige Masse, in sich zusammen.

Das Licht erlosch, und eine Stimme sagte: »And this must ever be/a secret between you and me!«12

126.

So kam es, dass die Northumberland die letzte ihrer vielen Fahrten unter dem Kommando des Ersten Offiziers Edward Bell zu Ende brachte.

Kapitän Radcliffe wurde nie gefunden.

Ein Passagier, Daniel Thompson, sagte aus, dass er den Kapitän gegen zwei Uhr nachts am Bug gesehen hatte. An jener Stelle, an der laut Logbuch schon zwei andere Männer über Bord gegangen waren, unter ihnen kein Geringerer als der dritte Lord Eden. Dort musste das Schanzkleid des uralten Schiffes marode sein, jedenfalls deuteten die Akten der späteren Untersuchung diese Erklärung an. Aber jeder weiß, dass es unmöglich ist, irgendetwas zu beweisen, was auf hoher See geschieht.

Die große Zeit der hölzernen Segelschiffe neigte sich jetzt rasch ihrem Ende zu. Dampf und Stahl feierten ihre Triumphe, und die ehrwürdige Ostindische Kompanie meldete schließlich Konkurs an. Vier Jahre später verkürzte der Suez-Kanal die Reise nach Indien für viele Tausende britische Soldaten um fast drei Monate.

St. Helena versank im Meer, oder jedenfalls nahm man das an, denn die großen Schifffahrtslinien berührten diese Insel nicht mehr.

John Gowers stand am Heck und betrachtete den Horizont über der Straße von Mosambik. Er stellte sich eine andere Welt vor, eine andere Zeit, mithilfe seiner Gedächtnisscheiben, und er lächelte, wenn er darin ein bekanntes Gesicht entdeckte.