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»Nein. Nein, Vater war ein Schreibtischmensch. Also, er war nicht dick …«

»Wie viel wog Ihr Vater?«

»Hm. Hundertsiebzig, hundertachtzig Pfund.«

»Hm.«

Wie ist er auf die Rah gekommen, fragte sich Gowers, und warum ist er hinaufgeklettert, immerhin zwölf Meter hoch in die Takelage?

Niemand nahm Anstoß daran, dass Miss Thompson, die auf so unglückliche Weise ihren Vater verloren hatte, nun in Begleitung ihres Bruders Daniel Thompson weiterreiste. Wer darüber nachgedacht hätte, wäre vielleicht über das plötzliche Auftauchen des jungen Mannes erstaunt gewesen oder über die Tatsache, dass Emmeline diesen seit Jahren verschollenen Verwandten in nur etwas über vier Stunden in New York wiedergefunden hatte. Auch dass der verstorbene Samuel Thompson seinen in Amerika verlorenen Sohn nie auch nur mit einer Silbe erwähnt hatte, kam niemandem merkwürdig vor, denn John Gowers verstand es meisterhaft, ein lange zurückliegendes Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn so dunkel anzudeuten, dass bald jeder davon wusste, ohne zu wissen, was er eigentlich wusste. Auch das hatte er früh von seiner Mutter gelernt: nicht nur, sich den Namen zu geben, den man braucht, sondern auch der zu sein, den die Welt erwartet.

Man merkte dem jungen Daniel Thompson deutlich das schlechte Gewissen an, damals einfach so auf und davon gegangen zu sein, ohne ein Wort – das nun niemals mehr ausgesprochen werden konnte. Im Gegensatz zu seiner Schwester schien er auch nicht am Selbstmord seines Erzeugers zu zweifeln, ja, offensichtlich fühlte er sich selbst nicht ganz unschuldig an den düsteren Stimmungen des alten Herrn, die die menschliche Katastrophe schließlich ausgelöst hatten.

Deswegen wunderte sich auch niemand über die endlosen Fragen, die er allen und jedem über das tragische Ableben seines Vaters stellte. Hier wollte, so viel war offensichtlich, ein Mann Wiedergutmachung leisten, mit sich und dem Toten ins Reine kommen. Die Bestattung auf See, die bewusste Nacht, die Tage vorher – das alles musste Daniel Thompson bald so deutlich vor Augen stehen, als wäre er selbst dabei gewesen.

In den Papieren und der Lektüre des Verstorbenen fand sich dagegen wenig Brauchbares oder Ungewöhnliches. Samuel Thompson hatte zuletzt in einem Buch über St. Helena gelesen und offenbar immer wieder eine Karte der Insel studiert, aber das war mehr als verständlich, denn er sollte sie ja im Namen Ihrer Majestät Königin Viktorias regieren. Ansonsten waren seine intellektuellen Habseligkeiten, vor allem seine Bibliothek, bemerkenswert dürftig, was Emmeline einleuchtend damit begründete, dass der Großteil des thompsonschen Haushalts aus Kostengründen in England geblieben war. Unter diesem Aspekt gehörte ein Stadtplan von Paris, der Gowers eigenartigerweise bei der Durchsicht der Kleider des Toten in die Hände gefallen war, zu den Rätseln, in die auch seine Auftraggeberin kein Licht bringen konnte.

Eines allerdings wurde dem Investigator schnell klar: Samuel Thompson war ein überaus korrekter Beamter gewesen. Dennoch fand sich kein Abschiedsbrief, keine noch so flüchtige Notiz und, was besonders schwer wog, auch kein Testament. Deshalb modifizierte Gowers versuchsweise seine Überlegungen und fragte sich: Wann ist er auf die Rah gekommen?

19.

»Ihr Vater trug eine Brille?«

»Ja, er war kurzsichtig.«

»Hatte er die Brille auf, als man ihn fand?«

»Nein, sie war … Sie sagten, die wäre … die hätte er …«

»Sie lag auf Deck.«

»Ja, ich glaube. Ja.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Ich habe sie Vater … mitgegeben.«

»Waren die Gläser gesprungen?«

»Nein. Doch. Auf der einen Seite war ein Sprung, quer durch. Aber das Glas war nicht herausgesprungen.«

»Keine Splitter? Waren die Bügel gebrochen?«

»Nein, sie war sonst ganz heil.«

»Hm.«

Kapitän Radcliffe war eine imposante Erscheinung, mehr als sechs Fuß groß, mit einem durch die Uniform gut kaschierten Ansatz zur Beleibtheit. Zwei Verwundungen in zwei Kriegen hatten diese englische Eiche nicht beugen können. Er stand so aufrecht wie die Masten seines Schiffes und verschränkte zwei Hände hinter seinem Rücken, denen Ruder und Riemen offensichtlich genauso vertraut waren wie Fernglas und Besteck. Das Einzige, was an seinem Gesicht gemütlicher wirkte, als der Mann war und sein wollte, war der prächtige Backenbart, auf dem hier und da schon ein weißer Schimmer lag. Er musterte Gowers mit dem konzentrierten Ernst eines Herrn über tausend Leben, die Ratten nicht mitgerechnet.

»Ja?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, mein Name ist Daniel Thompson.«

»Und?«

»Mein Vater war Samuel Thompson, der …«

»O ja, mein Beileid, junger Mann.«

»Ich danke Ihnen. Auch für Ihre Worte bei der Bestattung. Meine Schwester hat mir davon erzählt.«

»Ja, traurige Sache. Hat Ihre Schwester sich wieder davon erholt?«

»Ja. O ja, Sir, ich denke.«

»Und nun? Ich habe ein Schiff zu führen, Mr. Thompson.«

»Ja, natürlich, Sir. Nur eine Frage: Wäre es möglich, dass ich kurz mit den Männern sprechen könnte, die meinen Vater … Sie wissen schon: heruntergeholt haben?«

»Warum?«

»Ich möchte ihnen danken.«

»Das war ein Befehl. Man bedankt sich nicht bei britischen Matrosen, wenn sie Befehle befolgen. Macht einen schlechten Eindruck. Versaut … Entschuldigung, verschlechtert die Moral, Mr. Thompson.« Nur ein leichtes Funkeln in den Augen des etwa fünfzigjährigen Seemanns verriet seine Belustigung. Es konnte ohne Weiteres auch eine Warnung sein: Keine Anbiederung an die Mannschaft!

»Nun, Sir, aber ich hätte den Männern doch gerne die Hand gedrückt. Was kann das schaden?«

»Hm.« Radcliffe wandte sich an den diensthabenden Offizier. »Bell?«

»Sir?«

»Den Toten neulich, wer hat den abgeschnitten?«

»Das waren … Pullman und Gore. Der junge Barclay hat auch geholfen.«

»Gut. Mr. Thompson hier möchte sich bei Pullman und Gore bedanken.«

»Sir?«

»Will ihnen die Hand drücken und all das.«

Der Deckoffizier warf Gowers einen zweifelnden Blick zu. Vermutlich kam es ihm vor, als wollte jemand dem Regen dafür danken, dass er nach unten fällt. Und nur um zu zeigen, dass sich auch die Handelsmarine Ihrer Majestät nicht lumpen ließ, sagte er: »Pullman und Gore haben bereits eine Sonderration Rum bekommen, Sir.«

»Was? Keinen Orden?«, brummelte Radcliffe und sagte laut: »Bringen Sie die beiden in der Freiwache zu Mr. Thompson !«

»Jawohl, Sir.«

»Danke, Sir«, sagte Gowers. »Vielen Dank.« Er wollte schon den Niedergang zum Passagierdeck heruntersteigen, da fiel dem bärbeißigen Seemann noch eine ironische Bemerkung ein: »Mr. Thompson? Es war ein Befehl von Mr. Bell hier. Drücken Sie ihm die Hand!«

Einen Moment lang blickte Gowers tatsächlich zu dem Deckoffizier, der sich ärgerlich zu fragen schien, ob das ein dienstlicher Befehl war. Aber da drehte der Kapitän sich schon um und grinste aufs Meer hinaus.

20.

Die Seeleute waren nicht gerade begeistert davon, ihre Freiwache mit dieser merkwürdigen Abkommandierung zu beginnen, aber mit der instinktiven Vorsicht, die das Leben vor dem Mast diesen immer beschimpften, mitunter geprügelten, nie zufriedenen Menschen eingeimpft hatte, hüteten sie sich, das zu zeigen, solange ihr Offizier in der Nähe war. Es waren nur zwei, Pullman und Gore. Wer immer der junge Barclay war, er schien unabkömmlich, seine Arbeit zu wichtig für die Fahrt des Schiffes.

»Gentlemen«, sagte Gowers, als Bell sich mit skeptischer Miene entfernt hatte. »Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten ?«

Pullman und Gore runzelten überrascht und überraschend synchron die Stirn, aber dann schienen sie das Dasein in einem freundlicheren Licht zu betrachten. Die Sonne ihres Wohlwollens ging zwar nicht direkt auf, aber sie warf, noch etwas misstrauisch, doch schon mal einen kurzen Blick über den Horizont.