Nur er besaß dieses Vorrecht, und das war auch das Zeichen seiner Macht, der Beweis seiner Autorität und seiner Erfahrenheit. Selbst der Gott des neuen Glaubens wollte nicht einmal seinem geliebten Moses gegenüber seinen Namen preisgeben. Sagen nicht die Priester des neuen Glaubens, daß Moses auf diese Frage lediglich als Antwort von Gott erhielt: »Ich werde sein, der ich sein werde.« Stimmte es denn nicht, daß all die Götter ihre göttliche Freiheit aus geschickter Beeinflussung und Kontrolle errangen, indem sie Kenntnis und Gebrauch ihrer Namen verhinderten? Namen und das Benennen der Dinge verliehen Macht. Er besaß diese Macht. Und er spürte sie in diesem Augenblick.
Er streckte seine Hände wieder nach vorn, spreizte seine Fingerspitzen, als wollte er das strenge, zerklüftete Gesicht der erhabenen Göttin liebkosen. Er empfand die Erregung, das eigenartige Pulsieren der sreang na imleacain, der Nabelschnur, die ihn mit der weißen Scheibe verband und bedingungslose Ergebenheit und Gehorsam forderte.
Er wußte, daß die Zeit herangerückt war, in der er ihrem zwanghaften Einfluß nicht länger widerstehen konnte.
Er verließ die Lichtung und lief merkwürdig hüpfend in den Wald. Ihm war klar, wo er sich befand. Mit der Leichtigkeit eines Tieres bewegte er sich vorwärts und eilte über den dunklen Waldpfad. Hindernissen ging er geschickt aus dem Weg, sein Atem war ruhig und ohne jede Spur von Anstrengung. Der Hauptweg war nicht mehr weit, denn die Bäume standen nicht mehr so dicht. Er sah schon die dunklen Umrisse der alten Festung des Fürsten auf dem Hügel zu seiner Rechten. Bei diesem Anblick hielt er inne. Ihm fiel das Flackern der Laternen auf, die an den Toren der Festung angebracht waren. Er wußte, daß in deren Schatten mindestens zwei Krieger Wache hielten. Das störte ihn weiter nicht. Er würde sich nicht noch näher an die Festung heranwagen. Das war nicht seine Absicht.
Im Mondschein konnte man sehen, daß der Weg, der am Wald entlang- und zur Festung hinaufführte, völlig menschenleer war. Er blickte hinauf zu der Mondscheibe über sich; da formten sich seine Lippen kurz zu einer schmalen, entschlossenen Linie.
Ob es schon zu spät war? Hatte er etwa den richtigen Augenblick verpaßt? Gewiß nicht. Die Eingebung, die ihn vorantrieb, sagte ihm, daß alles gutgehen würde.
Jetzt regte sich etwas an den Toren der Hügelfestung. Das Quietschen von Metallscharnieren unterbrach die nächtliche Stille. Er vernahm Stimmen. Ein Mann rief in gedehntem Ton: »Komm gut heim, Ballgel!« Woraufhin eine leise weibliche Stimme vergnügt antwortete. Dann hörte er, wie die Tore wieder zugingen.
Etwas Dunkles schwebte langsam den Hügel hinunter.
Dankbar stieß er einen Seufzer aus. Er war rechtzeitig gekommen. Die schmale Gestalt, die offenbar einen Korb unter dem Arm trug, war im Mondlicht vor den dunklen Festungswehren besser zu erkennen. Sie lief mit jugendlich beschwingten Schritten.
Er lächelte in sich hinein und zog sich ein wenig in den Schutz der Bäume zurück. Er spürte, wie sein Puls langsam schneller wurde; seine schweißnassen Handflächen begannen zu jucken. Unbewußt rieb er sich die Hände an seinen Oberschenkeln ab.
Die Gestalt näherte sich rasch und kam auf seine Höhe. Da bewegte er sich leicht, wobei es im Unterholz raschelte. Sofort blieb sie stehen und drehte sich in seine Richtung.
»Wer da?« fragte sie und starrte in die Finsternis hinein, ihre Stimme verriet keine Angst.
Er zögerte nur einen Moment, blickte rasch nach hinten, um sicher zu sein, daß sie wirklich allein waren, dann trat er in das Mondlicht hinaus. Sie erkannte ihn und war sichtlich erleichtert.
»Ach du bist es! Was tust du hier?«
Er räusperte sich und versuchte zu lächeln. Seine Stimme klang herzlich und freundlich. »Ich bin auf dem Heimweg, Ballgel. Ich meinte dich auf dem Weg von der Festung hinunter gesehen zu haben. Ist es nicht zu spät für dich draußen?«
Das Mädchen tat die späte Stunde mit einem Lachen ab. »Fürst Becc hatte heute abend viele Gäste. Ich mußte meinem Onkel in der Küche zur Hand gehen. Es gab allerlei zu tun. Ist es nicht immer das gleiche, wenn unser Herr Gäste hat? Ich muß häufig bis spät in die Nacht dableiben. Ich dachte, du wüßtest das.«
Geistesabwesend nickte er. Das wußte er natürlich. Damit hatte er gerechnet. »Ich werde dich begleiten.«
»Wie du willst«, erwiderte sie. »Ich gehe direkt nach Hause. Es war ein anstrengender Tag.«
Sie drehte sich um und lief weiter. Seine Hütte befand sich ja ungefähr in der gleichen Richtung wie die ihre. Daher war sie nicht weiter von seinem Angebot überrascht. Er stapfte neben ihr her.
Jetzt lächelte er. Es war ein verschlagenes Lächeln, doch in dem trüben Licht nahm sie es nicht wahr.
»Wenn du schnell nach Hause willst, solltest du die Abkürzung direkt durch den Wald über die Kuppe des Hügels nehmen. Damit sparst du fünfzehn Minuten ein.«
»Durch das Eberdickicht zu so später Stunde?« Sie lachte wieder. »Mit Wölfen und wer weiß was für wilden Tieren? Hast du vergessen, was dort im Wald passiert ist?«
Er blieb stehen und breitete seine Arme aus, als wollte er damit alle Gefahr beiseite schieben.
»Ich bin doch hier, um dich zu beschützen, oder?« fragte er. »Weder Tier noch Mensch würde zwei erwachsene Leute angreifen. Ich möchte auch so schnell wie möglich heim, und ich muß noch ein Stückchen weiter als du. Wie gesagt, wir gewinnen so ganze fünfzehn Minuten.«
Das Mädchen zögerte, begriff dann aber, daß er recht hatte.
»Im Wald ist es so dunkel«, warf sie ein, allerdings etwas halbherzig.
»Was? Dunkel? Wo doch Vollmond ist? Es ist so hell, daß man sogar einen Dachs zwanzig Schritt entfernt unter den Büschen entlanglaufen sieht. Komm! Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, ich bin bei dir.«
Nur für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann nickte sie. »Nun gut, ich werde aber so schnell wie möglich laufen.«
Sie rannte vor ihm her, und einen Augenblick lang hob er sein Gesicht zu der riesigen Scheibe des Mondes empor, schloß frohlockend die Augen und tauchte sein totenbleiches Antlitz in das eisige weiße Licht.
»So komm schon«, rief sie ihm ungeduldig zu. »Worauf wartest du?«
»Ich komme«, erwiderte er schnell. Sein Herz klopfte so laut, daß es alle anderen Geräusche zu übertönen schien. Er spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn tropfte und um die Augenhöhlen floß. Er wischte sich das Gesicht mit der Hand ab. Dann folgte er mit sicheren Schritten der dunklen Gestalt, die auf dem Pfad in den mondbeschienenen Wald hinein zu verschwinden schien.
»Mein Lord, komm schnell!«
Becc, der Stammesfürst der Cinel na Äeda, blickte verärgert auf, als Adag, sein Verwalter und Haushofmeister, ohne vorheriges Anklopfen in seinen Schlafraum stürzte. Das war ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Regeln. Er öffnete den Mund, um seinen Untergebenen zurechtzuweisen, doch dieser redete weiter.
»Bruder Solam von der Abtei ist hier. Man will die Mönche angreifen«, stieß der rundliche, kahl werdende Mann hervor. »Abt Brogan bittet dich um Hilfe. Sofort.«
Becc war bis tief in die Nacht auf gewesen, hatte mit seinen Gästen gezecht. Ihm schmerzte der Kopf, sein Mund war ganz trocken. Er stöhnte ein wenig und griff nach einer Karaffe, die auf dem Tisch neben seinem Lager stand. Er hob sie an und nahm ein paar Schlucke. Angewidert verzog er das Gesicht. Der Verwalter sah ihm abschätzig zu.