Die Halbherzigen wären gern davongezogen, wenn nicht Brocc seine Hand erhoben und sie zum Bleiben gezwungen hätte.
»Ich bin ein ceile, eine freier Stammesangehöriger. Ich bewirtschafte mein eigenes Land, zahle Steuern an die Gemeinde, und ich bin der erste, der die Truppen des Fürsten bei Krieg und Gefahr unterstützt. Ich besitze eine Stimme in der Stammesversammlung, und auch wenn ich nicht zu den derbfhine deiner Familie gehöre, dem Netz von Verwandten, das dich zum Fürsten wählte, so soll und wird meine Stimme gehört werden.«
Becc saß immer noch ruhig auf seinem Pferd und wirkte entspannt, nur seine Augen wurden ein wenig schmaler.
»Deine Stimme wird gehört, Brocc«, erklärte der Fürst ruhig. Nur jene, die ihn gut kannten, bemerkten den gefährlichen Unterton in seinen Worten.
Doch Brocc kannte ihn nicht so genau. Er wandte sich wieder an die Menge.
»Unter uns hat es Tote gegeben. Junge Mädchen sind gewaltsam zu Tode gekommen. In der letzten Nacht wurde Ballgel, meine Cousine, die in der Küche unseres Stammesfürsten aushalf, auf dem Heimweg umgebracht. Sie ist das dritte Mädchen, das bei Vollmond brutal ermordet wurde. Hat nicht erst im letzen Monat Escrach, das einzige Kind meines Bruders, das gleiche Schicksal erleiden müssen? Wann hat das Abschlachten begonnen? Genau als Abt Brogan die drei dunklen Fremden bei sich aufgenommen hat. Schwarz ist ihre äußere Erscheinung, und schwarz sind ihre Taten. Ich fordere Gerechtigkeit. Bring sie heraus, damit sie bestraft werden können.«
Die Leute murmelten zustimmend, doch etwas verhaltener, seit die bewaffneten Krieger aufgetaucht waren. Deutlich war jedoch, daß Brocc bei den Dorfbewohnern große Unterstützung fand.
Becc lehnte sich in seinem Sattel vor. »Wo sind deine Beweise, Brocc?« fragte er ziemlich gleichmütig, als handelte es sich um eine normale Unterhaltung.
»Die Beweise wurden deinem Brehon Aolü vorgelegt«, erwiderte Brocc.
»Sie waren für ihn gegenstandslos.«
»Und nun ist der alte Narr tot. Schaff einen neuen Brehon herbei, und ich werde ihm alles noch einmal vortragen.«
»Aolü hat dir doch erklärt, daß deine Beweise nicht ausreichten. Mit welchen Beschuldigungen willst du die Fremden vor einem neuen Brehon anklagen? Nach dem Gesetz dieses Landes geht das nicht ohne schlüssige Beweise.«
Brocc lachte auf. »Schon ihre Anwesenheit hier ist Beweis genug!«
Trotz immer lauter werdender Beifallsbekundungen lehnte sich der Fürst in aller Ruhe zurück. Er lächelte bitter.
»So verfügst du über keinen anderen Grund als dein Vorurteil?« spottete er. »Dir geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern du verlangst ein Opfer auf dem Altar deiner Vorurteile. Ich sage dir noch einmal, Brocc, und jedem, der noch immer vor diesem Tor hier steht, sage ich es ebenso: Ihr verstoßt gegen das Gesetz des Cdin Chireib. Das ist meine zweite Verwarnung. Eine dritte möchte ich mir sparen.«
Brocc ließ sich nicht entmutigen. Unbeeindruckt stand er da und schüttelte den Kopf.
»Wir lassen uns nicht von unserem Vorhaben abbringen. Wir werden die Abtei stürmen und die Fremdlinge gefangennehmen. Niemand wird uns aufhalten, weder die Mönche noch du, Becc, und deine Krieger, wenn ihr euch uns in den Weg stellt.«
Er hob seine mächtige Keule drohend vor die Brust. Gleichzeitig drehte er sich zu den Leuten um und forderte sie auf: »Folgt mir, und ich werde für Gerechtigkeit sorgen!«
Niemand rührte sich. Alle blickten an Brocc vorbei auf den Fürsten. Als sich Brocc umdrehte, hatte der gerade einen Pfeil an seinen Bogen gelegt. Nun zielte er in seine Richtung. Brocc war kein Feigling. Überrascht blinzelte er, doch dann lächelte er trotzig.
»Du kannst mich nicht niederschießen, Becc. Ich bin ein ceile, ein freier Stammesangehöriger.«
Becc hatte den Bogen leicht angehoben und brachte den Pfeil in Augenhöhe. Jetzt war der Bogen ganz gespannt.
»Zum drittenmal, Brocc, warne ich dich. Du verstößt gegen das alte Gesetz des Aufruhrs. Ich befehle dir ein drittes und letztes Mal, in dein Haus zurückzukehren. Weigerst du dich, so trägst du allein die Folgen.«
»Verfaule doch in deinem Grab! Willst du etwa deine eigenen Leute umbringen, Becc?« spöttelte Brocc. »Das wirst du nicht tun, nur um Fremde zu beschützen.« Er hob seine Keule und rief in die Menge: »Folgt mir! Wir werden .«
Seine Worte endeten in einem Schmerzensschrei.
Becc hatte den Pfeil abgeschossen, der sich in Broccs Oberschenkel gebohrt hatte. Einen Moment stand er mit weit aufgerissenen Augen da, dann fiel er zu Boden, krümmte sich und stöhnte vor Schmerzen. Niemand rührte sich. Niemand sagte ein Wort.
Mit zornigem Blick rief der Fürst: »Ich habe euch dreimal gewarnt. Jetzt kehrt in eure Häuser zurück!« Seine Stimme klang streng.
Bereitwillig, wenn auch leise murmelnd, zerstreute sich die Menge. Nach kurzer Zeit waren alle verschwunden außer dem sich am Boden windenden Brocc.
Als Abt Brogan auf den Fürsten zueilte, schwang der sich vom Pferd.
»Gott sei gedankt! Du hast dich beeilt, Fürst. Ich hatte schon befürchtet, daß sie über die Abtei herfallen.«
Becc drehte sich zu seinem Verwalter Adag um, der auch gerade absaß. »Schaff Brocc zum forus tuaithe, dort soll man sich um seine Verletzung kümmern. Es ist nur eine Fleischwunde, sie schmerzt zwar, wird ihn aber nicht gleich umbringen.«
Der forus tuaithe war - wörtlich - das »Haus des Gebietes«, das Hospital. Jedes Gebiet verfügte über eine solche Einrichtung, ob sie nun weltlich verwaltet war und unter die Zuständigkeit der Brehons fiel oder vom ansässigen Abt geleitet wurde.
Adag half Brocc auf die Beine, vielleicht ein wenig zu grob. Der stämmige Mann stöhnte und klammerte sich an ihn. Seine Wunde blutete stark.
»Ersticken sollst du!« stieß er keuchend hervor und blickte Becc mit haßerfüllten Augen an. »Vor Schmerzen brüllen und verrecken!«
Becc lächelte. »Deine Flüche können mir nichts anhaben, Brocc. Und denk dran, wenn du deine Verwünschungen ausstößt, du schaufelst dir dein eigenes Grab.«
Er sah zu Adag hinüber und nickte leicht. Der Verwalter zog den verletzten Brocc auf nicht eben sanfte Weise fort.
»Falls du die Redewendung nicht kennst, Brocc«, flüsterte Adag ihm erheitert zu, »sie bedeutet, daß der Fluch auf dich zurückfallen wird, wenn er die Person, auf die er abzielte, nicht trifft. Ich würde dem Fürsten gegenüber Reue zeigen, um den Folgen deines Fluchs zu entgehen.«
Becc sprach inzwischen mit dem Abt.
»Das ist eine schlimme Angelegenheit, Abt Bro-gan«, sagte er, wobei er den Bogen an seinen Sattel hängte.
Der alte Mönch nickte. »Ich fürchte, daß die Leute Angst haben. Wenn es nicht Brocc wäre, dann würde ein anderer diese Angst ausnutzen. Drei junge Mädchen sind umgebracht worden und alle bei Vollmond.« Er zitterte, bekreuzigte sich und murmelte: »Absit omen!«
»Wo haben sich die Fremden gestern nacht aufgehalten?«
»Sie schworen, sich nicht aus der Abtei entfernt zu haben. In dieser Sache weiß ich mir keinen Rat. Soll ich ihnen sagen, daß ihnen die Abtei kein Obdach mehr bieten wird? Daß ich ihnen nicht weiter Schutz und Gastfreundschaft gewähren kann?«
Becc schüttelte rasch den Kopf. »Wenn sie nicht schuldig sind, wäre das ungerecht und ein Verstoß gegen das Gesetz der Gastfreundschaft. Sollten sie schuldig sein, so wäre es ebenso falsch, sie weiterzuschicken und ohne Prozeß entkommen zu lassen, damit sie dann woanders ihre Verbrechen begehen.«