Eadulf war ein wenig hin und her gerissen zwischen seiner Bewunderung für ihre philosophischen Ausführungen und dem Gefühl, ihr nicht das Wasser reichen zu können. Er wünschte, er hätte ein so gutes Gedächtnis wie Fidelma, die ganze Abschnitte aus der Bibel zitieren konnte. Die Gelehrten von Eireann hatten sich jahrhundertelang in dieser Kunst geübt. Fidelma hatte ihm davon berichtet, daß man vor der Einführung des Christentums in ihrem Land traditionell religiöse und philosophische Texte nicht schriftlich festhielt. Männer wie Frauen verwandten mehr als zwanzig Jahre darauf, die alten Gesetze und Riten auswendig zu lernen.
»Ich schätze, daß wir Bischofs Petrans Ansicht nach zweifach verdammt sind«, sagte Eadulf, stand auf und ging in die Ecke des Raumes, wo die Wiege stand.
»Weck ihn nicht auf«, sagte Fidelma.
»Auf keinen Fall«, versicherte Eadulf ihr. Er sah auf das schlafende Baby hinab. Auf der Stirn lagen feine rote Haarsträhnen. Eadulf lächelte voller väterlichen Stolzes. »Es ist immer noch kaum zu glauben, daß wir einen Sohn haben«, sagte er leise, mehr zu sich selbst.
Fidelma stand rasch auf und stellte sich neben ihn, wobei sie eine Hand auf seinen Arm legte. »Vier Monate hattest du nun schon Zeit, dich mit Alchüs Ankunft in dieser Welt anzufreunden.«
»Sanfter Hund.« Eadulf übersetzte den Namen lei-se, während er auf das Kind niederblickte. »Ich frage mich, was aus ihm einmal werden wird.«
»Er muß erst einmal groß werden, Eadulf, und das dauert.« Fidelma kehrte wieder ans Feuer zurück und setzte sich. »Sarait wird bald hier sein und sich um ihn kümmern, denn wir sind heute abend bei meinem Bruder zum Festmahl gebeten.«
Sarait war Fidelmas Dienerin und das Kindermädchen von Alchü. Solange Fidelma im Schloß ihres Bruders in Cashel wohnte, wurde sie nicht als Nonne behandelt, sondern als eine Prinzessin der Eogha-nacht, die Schwester des Königs von Muman.
»Aus welchem Anlaß wird gefeiert?« wollte Eadulf wissen.
»Man hat mir mitgeteilt, daß der Stammesfürst der Cinel na Äeda heute nachmittag eingetroffen ist und meinen Bruder um Hilfe ersucht hat. Colgü hat uns gebeten, an der Tafel zu erscheinen.«
»Hilfe? Welcher Art wohl?«
Fidelma zuckte gleichgültig die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich habe mich auch schon gefragt, was ihn nach Cashel getrieben hat. Heute abend werden wir es erfahren.«
»Wer sind die Cinel na Äeda? Ich dachte, ich würde alle Stämme deines Königreiches kennen, doch an den Namen kann ich mich nicht erinnern.«
»Sie leben in den Hügeln südlich vom Fluß Bride, einen gemächlichen Zweitageritt südwestlich von hier. Die Festung des Stammesfürsten wird Rath Raithlen genannt. Er heißt Becc und ist ein entfernter Cousin von mir, denn sein Volk gehört zu den Eoghanacht. Beccs Großvater Fedelmid war vor achtzig Jahren König von Cashel. Ich habe Becc zuletzt als kleines Mädchen gesehen, da war ich sogar mal in seinem Herrschaftsgebiet.«
»Also stattet er Cashel nicht so häufig einen Besuch ab?«
»Äußerst selten«, entgegnete Fidelma. »Er kommt nur zu den Zusammenkünften der Ratsversammlung dieses Königreiches. Sonst pflegt Becc keine weiteren Kontakte zu Cashel.«
Eigentlich war Fidelma noch neugieriger als Eadulf, was den Grund des Besuchs ihres entfernten Cousins betraf. Als sie mit Eadulf zu den privaten Räumen von Colgü, dem König von Muman, schritt, dachte sie ständig daran. Der königliche Haushofmeister hatte ihnen mitgeteilt, daß Colgü sie vor dem Festmahl bei sich empfangen wollte. Der junge König war allein. Es war kaum zu übersehen, daß Fidelma und Colgü eng miteinander verwandt waren, denn sie waren beide hochgewachsen, hatten rote Haare und die gleichen wandelbaren grünen Augen. Ihre Gesichtszüge ähnelten sich, und beide hatten die gleiche Art, sich zu bewegen.
Colgü empfing sie mit einem herzlichen Lächeln und umarmte seine Schwester. Dann streckte er Eadulf die Hand entgegen.
»Geht es dem Kleinen gut?« fragte er.
»Alchü ist wohlauf, ja. Sarait ist bei ihm«, erwiderte Fidelma. Rasch blickte sie sich im Raum um. »Wie ich sehe, ist dein Gast nicht hier, Bruder. Das bedeutet, daß du mit uns etwas besprechen willst, ehe wir ihn begrüßen.«
Colgü lächelte. »Wie immer beweist du einen wachen Verstand, Fidelma. Ja, ich wollte tatsächlich vor dem Essen mit euch reden. Doch die Neuigkeiten sollt ihr direkt aus dem Mund unseres Cousins erfahren. Ich werde ihn später rufen lassen, bevor wir in den Saal gehen, wo, den Umständen entsprechend, nur noch eine oberflächliche Unterhaltung stattfinden kann.«
Eadulf hustete verlegen. »Vielleicht sollte ich mich zurückziehen, wenn die Angelegenheit eure Familie betrifft?«
Colgü streckte ihm eine Hand entgegen und hieß ihn bleiben. »Du gehörst nun zur Familie. Als Mann meiner Schwester und Vater ihres Sohnes. Außerdem geht diese Sache auch dich an.«
Fidelma nahm auf einem der Stühle vor dem Feuer Platz, Eadulf wartete, bis Colgü ihm das Zeichen gab, sich zu setzen. So schrieb es das Zeremoniell vor. Fidelma war nicht nur die Schwester des Königs, sondern eine anruth, eine Anwältin bei Gericht, also durfte sie sich auch ohne Erlaubnis in Anwesenheit der Provinzkönige setzen und vor ihnen das Wort ergreifen. Sie durfte sogar in Anwesenheit des Großkönigs sitzen, wenn man sie dazu einlud. Eadulf, der, obwohl Fidelmas Ehemann, in diesem Königreich ein Fremder war, mußte warten, bis man ihn zum Sitzen aufforderte.
»Colgü, deinen Bemerkungen entnehme ich, daß die Angelegenheit, in der Becc mit dir reden will, keine nur familiäre Sache ist?« fragte Fidelma.
»So ist es«, erwiderte Colgü. »Er spricht von dem Bösen und vom Tod. Unter den Cinel na Äeda herrschen Furcht und Schrecken.«
Überrascht zog Fidelma ihre Augenbrauen hoch.
»Das Böse und der Tod?« wiederholte sie leise. »Das Böse ist ein emotionsgeladenes Wort, aber der Tod weilt immer unter uns. Wieso werden beide Wörter zusammen genannt?«
»Er spricht von Aberglauben und von möglicherweise unheiligen Ritualen, die sich unter den Bewohnern der dunklen Wälder breitgemacht haben.«
»Da bin ich aber gespannt, Bruder. Erzähl mehr davon.«
»Ich werde Becc rufen lassen, damit er weiterberichtet«, erwiderte Colgü. »Ihr sollt gleich alles aus seinem Mund erfahren.« Er langte nach einer kleinen silbernen Glocke, die sich seitlich auf einem Tisch befand. Kaum war das schrille Läuten verklungen, da trat der Haushofmeister des Königs ein und ließ auf ein Nicken von Colgü hin einen älteren Mann hereinkommen. Sein Gesicht mit dem buschigen Bart verriet noch, wie schön es in seiner Jugend gewesen sein mußte. Er besaß die durchtrainierte Figur eines Kriegers, die im Alter kaum an Stattlichkeit eingebüßt hatte.
»Becc, Stammesfürst der Cinel na Äeda«, verkündete der Haushofmeister, ehe er sich zurückzog und die Tür schloß.
Nur Eadulf erhob sich unbeholfen, als der fremde Fürst eintrat, dessen Name ganz im Gegensatz zu seiner hohen Gestalt stand - Becc bedeutete »der Kleine«. Becc verneigte sich förmlich vor Colgü, ehe er sich mit einem sanften Lächeln Fidelma zuwandte und ihr zunickte.
»Fidelma, wo ist das kleine Mädchen geblieben, dem ich vor vielen Jahren begegnet bin? Dein Ruhm eilt dir jetzt in allen Teilen unseres Königreiches voraus.«
»Wie freundlich von dir, Cousin Becc«, erwiderte Fidelma ernst. »Erlaube mir, dir meinen Gefährten Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Land des Südvolks vorzustellen.«
Becc wandte sich nun Eadulf zu und betrachtete ihn verschmitzt aus spöttischen blaugrünen Augen.
»Ich habe Bruder Eadulfs Namen immer im gleichen Atemzug mit dem von Fidelma von Cashel vernommen. Beide stehen für Gesetz und Gerechtigkeit.«
Eadulf fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er hatte die vage Vermutung, daß hinter all diesen Komplimenten etwas steckte und das Treffen nicht ohne Hintergedanken stattfand.