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»Nein. Doch wer ist dieser Kerl, der mir ans Leben wollte?«

Der erste Wachmann hatte dem Schurken inzwischen das Messer abgenommen. Nun zerrten ihn beide Wachmänner an den Armen ins Licht der Fackeln.

Fidelma hörte Stimmengewirr, denn jetzt kamen, von dem Lärm aufgeschreckt, die Bewohner aus ihren Häusern. Sie bemerkte Eadulf, der sich mit blassem Gesicht einen Weg durch die Menge bahnte.

»Fidelma! Ist alles in Ordnung mit dir?«

Sie nickte.

Auch Accobran trat auf sie zu.

»Ist das der Vollmondmörder?« fragte er.

Die beiden Krieger zogen ihren Gefangenen weiter ins Licht, damit man sein Gesicht erkennen konnte.

»Brocc!«

Die Menge hielt den Atem an.

Der Tanist blickte den stämmigen Mann an, der ihn mit haßerfüllten Augen anfunkelte.

»Also bist du der Vollmondmörder? Und da hast du noch versucht, die Leute gegen die Fremden aufzuwiegeln, obwohl du wußtest, daß sie schuldlos sind!«

Brocc schaute finster in die Runde.

»Es ist wahr, daß du mich eben in der dunklen Gasse umbringen wolltest, Brocc, doch ich bezweifle, daß du der Vollmondmörder bist«, meldete sich Fidelma zu Wort.

»Du weißt, daß ich es nicht bin!« fuhr Brocc sie an.

»Warum hast du versucht, mich zu töten?«

»Weil du die wahren Mörder schützt.«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte sie stirnrunzelnd.

»Das habe ich gleich gewußt, als du hier in Rath Raithlen auftauchtest. Ihr Nonnen und Mönche seid alle gleich und nehmt euch gegenseitig in Schutz. Es war doch klar, daß diese Fremden Escrach, Beccnat und Ballgel auf dem Gewissen haben. Ich habe gesehen, wie du sie trotzdem aufgesucht hast und freundlich zu ihnen warst. Du schützt sie, also machst du dich mitschuldig.«

Fidelma sah Brocc erstaunt an, dann wurde ihr Blick traurig.

»Wie jemand die Dinge so durcheinanderbringen kann wie du, begreife ich nicht, Brocc. Das betrübt mich sehr. Ich weiß nicht, was ich dir darauf antworten soll. Doch du sollst wissen, daß du ein schweres Verbrechen begangen hast, denn du hast versucht, eine dalaigh zu ermorden ...«

»Noch schlimmer«, warf Becc ein, der nun neben ihr stand, nachdem die Menge respektvoll auseinandergetreten war, um für ihn Platz zu machen, »noch schlimmer, du hast versucht, die Schwester des Königs zu töten.«

Fidelma winkte ab. »Es ist vor allem wichtig, das Gesetz einzuhalten. Dieser Mann hat nicht nur mich angegriffen, sondern in erste Linie das Gesetz, für das ich stehe. Das ist ein schweres Verbrechen. Es gibt für Mord und versuchten Mord eine feststehende Strafe, die beläuft sich auf sieben cumal, ungeachtet des Ranges des Täters. Aber diese Sache ist weitaus schwerwiegender .«

»Weitaus schwerwiegender«, echote Brocc. Er hatte sich noch nicht ganz unter Kontrolle. »Schwerwiegender, weil du dich schuldig machst, die Wahrheit zu verschleiern und die wirklichen Täter nicht anzuklagen. Zumindest war meine Tat ein Vergehen für die Wahrheit!«

Fidelma seufzte. »Du bist damit nur deinem eigenen Vorurteil gefolgt, und das zerfrißt deine Seele, Brocc, so daß du die Wahrheit nicht mehr erkennen kannst. Das schwerste Verbrechen ist das Töten eines anderen Menschen. In manchen Ländern bezeichnet man es als gerecht, den Mörder dafür an den Galgen zu bringen. Auch Christen treten immer häufiger für eine Vergeltung >Auge um Auge, Zahn um Zahn< ein. Doch wir sind ein altes und weises Volk. Wir gestehen einem Mörder zu, eine Entschädigung zu zahlen und seinen Ruf wiederherzustellen. Unser altes Rechtssystem sagt aber, daß erst Beweise gegen eine Person erbracht werden müssen, ehe sie in aller Öffentlichkeit Stellung nehmen und etwas gegen die Beweise vorbringen darf. Erst wenn die Beweislast groß genug ist, wird die Person verurteilt.

Man hat mich hergerufen, um diese Beweise zusammenzutragen, und das habe ich bisher auch getan. Doch daß du nun meinst, über dem Gesetz zu stehen, ja sogar glaubst, den erwählten Vertreter des Gesetzes angreifen zu dürfen, das ist mir noch nie vorgekommen. Ich kann nur annehmen, daß du nicht ganz bei Verstand bist - ob dauerhaft oder kurzzeitig, wird später beurteilt werden.«

Brocc trotzte ihr mit finsterem Blick. »Deine Worte sollen die Wahrheit verschleiern, Richterin. Alle Richter reden mit falscher Zunge.«

Fidelma schlug einen sarkastischen Ton an. »Ich dachte, du meinst, weil ich Nonne bin, würde ich die Wahrheit verbergen.«

»Richter! Geistliche! Schwarzer Hund, weißer Hund, beides bleiben Hunde«, hielt Brocc ihr entgegen.

Becc sah Fidelma besorgt an. »Was soll ich mit ihm machen, Cousine?«

»Mehr, als ihn bis morgen in Gewahrsam zu nehmen, wird nicht nötig sein. Dann werden wir die Vollmondmorde aufklären.«

Der Fürst der Cinel na Äeda seufzte unglücklich.

Er winkte den Wachmännern zu, Brocc abzuführen. Als sich die Menge zerstreute, sagte er leise: »Das Samhain-Fest steht vor der Tür, Fidelma. Es sind nur noch ein paar Tage bis dahin. Es wäre gut, wenn wir die Lösung der Fälle davor verkünden könnten. Ich möchte nicht, daß unser Volk von Unglück heimgesucht wird.«

Fidelma ging in die Halle. Becc und Eadulf folgten ihr. Sie nahm vor dem Feuer Platz.

Becc schaute sie ängstlich an.

»Hast du dich von dem Überfall erholt?« fragte er nervös. »Bist du sicher, daß du nicht verletzt wurdest?«

Sie winkte ab.

»Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden«, sagte sie. »Broccs Angriff war ziemlich unbeholfen. Er ist jedenfalls sehr dumm, aber seine Dummheit macht ihn gefährlich.«

»Weshalb bist du so besorgt wegen des Samhain-Festes?« fragte Eadulf.

»Das Samhain-Fest findet zu einer Zeit statt, in der sich das Jenseits mit seinen Geistern und Dämonen in dieser Welt zeigt, mein angelsächsischer Freund. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang können jene zurückkehren, die im Vorjahr gestorben sind, und Rache an jenen üben, die ihnen geschadet haben.«

»Aber das ist ein alter heidnischer Glaube«, sagte Eadulf mit seiner üblichen Geringschätzung für jene Bräuche.

»Wie dem auch sei«, griff Fidelma nun ein. »Ein Religionswechsel bedeutet nicht notwendigerweise, daß man nicht mehr an den Geschichten seiner Vorfahren hängt. Vor ungefähr fünfzig Jahren hat Papst Bonifatius in Rom angeordnet, daß das alte vorchristlich-römische Totenfest Lemuria im Mai stattfinden und als Festtag allen heiligen Märtyrern geweiht werden soll. Also hält sogar Rom an alten heidnischen Bräuchen fest.«

»Es stimmt, das Volk der Cinel na Äeda feiert weiterhin in aller Pracht das Samhain-Fest«, fügte Becc hinzu. »Alle glauben daran, daß die Geister von Becc-nat, Escrach und Ballgel zurückkehren und sich an den Menschen rächen werden, bis ihnen Gerechtigkeit widerfahren ist.«

Eadulf schüttelte verwirrt den Kopf. »Wenn es solche Geister wirklich gibt, würden sie doch sicher nur den Mörder aufsuchen.«

»Die Geister glauben, daß das ganze Volk dafür verantwortlich ist, wenn der Mörder nicht gefunden und bestraft wurde. Das Volk ist wie eine Familie, und die gesamte Familie ist dafür verantwortlich, was einzelne Mitglieder von ihr tun. Ist der Mörder also nicht bis zu Samhain bestraft, werden wir alle von rachelüsternen Geistern heimgesucht werden.«

»Keine Angst, Becc.« Fidelma lächelte.

Der Fürst sah sie erwartungsvoll an.

»Wir kommen morgen mittag in dieser Halle zusammen, und ich werde die Schuldigen entlarven.«

Eadulf und Fidelma hatten sich zurückgezogen und machten sich für die Nachtruhe fertig. Eadulf war sehr schweigsam. Von Zeit zu Zeit blickte Fidelma besorgt zu ihm hinüber.

»Du scheinst mir sehr nachdenklich, Eadulf«, sagte sie schließlich. »Ist es wegen morgen?«

Er erwiderte darauf mit einem tiefen Seufzer: »Ich habe schon einer ganzen Reihe von Gerichtsverhandlungen beigewohnt, Fidelma. Mir kommen Zweifel, ob du in diesem Fall im Gerichtssaal so erfolgreich sein wirst wie in der Vergangenheit.«