»Ich wurde in das Land der Cinel na Äeda gerufen und bin hier auf das Böse gestoßen. Was ist das Bö-se?« Sie machte eine Pause, als erwartete sie eine Antwort. »Schon seit vielen Generationen streiten sich die Philosophen über Begriff und Inhalt des Bösen. Das Böse liegt darin, anderen Menschen Schaden, körperliche oder seelische Gewalt, Qualen oder Schmerzen zuzufügen oder es zu beabsichtigen. Es ist die Antithese zu Gott. Und doch hat mein Mentor Brehon Morann einmal gesagt, wenn wir versuchen würden, das Böse ganz aus der Welt zu schaffen, so könnten wir nur wenig über die Natur unseres Seins erfahren. Jene, die Böses tun, sind häufig davon überzeugt daß das ehrenhaft und notwendig ist. Wir können das Böse nicht genau beschreiben, solange wir nicht unser aller Tun an den gleichen moralischen Grundsätzen ausrichten. Und so müssen wir akzeptieren, daß das Böse ein natürlicher Bestandteil unserer Welt ist.«
Unruhe kam unter den Anwesenden auf. Sie scharrten mit den Füßen, denn die meisten begriffen nicht, was die dalaigh sagen wollte.
»Wenn wir eine Predigt gewollt hätten, Schwester, wären wir in die Kirche gegangen«, rief Brocc, der trotz seiner Fesseln und der beiden Wachmänner aggressiv und ungestüm wie immer wirkte. Da traf ihn der Hieb eines seiner Bewacher in die Seite, und er schwieg.
Fidelma fühlte sich unverstanden, dennoch fuhr sie fort: »Selbst die Kirche ist nicht der alleinige Hüter des Guten. Dort stößt man ebenso auf das Böse wie unter jenen, die nicht dem neuen Glauben folgen.«
Abt Brogan öffnete den Mund, als wolle er etwas entgegnen, schwieg dann aber. Auf Liags Gesicht zeigte sich ein zynisches Lächeln.
»Ich bin hierhergekommen und habe Mißgunst entdeckt«, setzte Fidelma ihre Rede mit Nachdruck fort.
»Das wissen wir schon!« rief Seachlann. »Sind uns nicht unsere Töchter genommen worden? Schluß mit deiner Predigt, erklär uns lieber, wer an ihrem Tod die Schuld trägt.«
»Dazu komme ich noch«, versprach Fidelma geduldig.
»Alles zu seiner Zeit. Unsere Kultur und unsere Gesetze bilden die Meßlatte, an der sich das Böse beurteilen läßt. Das ist die Voraussetzung, um jene zu finden, die für alles Unheil verantwortlich sind. Seneca schrieb einmal, das schlimmste Übel ist jenes, vor dem Bösen zurückzuschrecken und vor ihm zu kapitulieren. Wir müssen uns dem Bösen jederzeit widersetzen und alles Leid auf uns nehmen, bevor wir uns ihm ergeben.«
Becc beugte sich vor und nickte. »Das ist wohl wahr, Fidelma, doch zeig uns, wo sich das Böse bei uns verbirgt.«
»Drei Verbrechen haben hier stattgefunden«, fuhr Fidelma fort. »Mord, Betrug und Diebstahl, dazu kommt noch ein Verstoß gegen die Regeln der Gastfreundschaft. Aus all diesen bösen Taten folgten weitere kleine Übertretungen unseres Gesetzes.«
Auf einmal herrschte erwartungsvolle Stille in der Halle. Fidelma sah in die auf sie gerichteten Gesichter. Die unterschiedlichsten Gefühle spiegelten sich darin wider: Erregung, die Jagdlust der Meute, die gleich von der Leine gelassen wird, Entsetzen, langsames Begreifen und manchmal auch Furcht.
»Ich will mit dem Verstoß gegen die Regeln der Gastfreundschaft anfangen. Das ist das geringste Vergehen, das gegen die Cinel na Äeda verübt wurde. Dennoch halten wir es nicht für unerheblich.«
Sie drehte sich zur Seite und blickte Bruder Dangila und seine Gefährten an, dann sah sie zu Bruder Solam hinüber. »Da ich die Beweisführung verständlicherweise in meiner Muttersprache antrete, beauftrage ich dich, Bruder Solam, meine Worte für die drei Mönche aus Aksum ins Griechische zu übersetzen.«
Der Klosterverwalter ging zu den drei Aksumitern hinüber und teilte ihnen den Wunsch der Richterin mit. Mit ernster Miene nickte Bruder Dangila zu Fidelma hinüber.
»Die drei Mönche aus dem fernen Land Aksum haben die Gastfreundschaft der Abtei mißbraucht ...«
»Ich hatte also recht!« warf Brocc mit heiserer Stimme ein. »Das sind die Mörder. Das habe ich schon immer gesagt, ich fordere also .«
Fidelma sah ihn aufgebracht an. »Du wirst hier gar nichts fordern. Wenn du dich nicht still verhältst, werde ich dich wieder in die Zelle bringen lassen.«
Brocc schwieg schließlich.
»Die drei Mönche aus Aksum, als Fremde in unser Land gekommen, sind hier möglicherweise selbst fehlgeleitet worden und werden dieses Argument zu ihrer Verteidigung anführen«, fuhr Fidelma fort.
»Wir verstehen deinen Vorwurf nicht, Schwester. Bitte erklär ihn uns«, sagte nun Bruder Dangila, und Bruder Solam übersetzte es für die Leute in der Halle.
»Ihr seid hierhergekommen, um die Schriften in der Abtei des heiligen Finnbarr zu studieren, wie ihr uns gesagt habt. Stimmt das?«
»Das stimmt.«
»Abt Brogan hat euch einzig und allein in seiner Abtei Gastfreundschaft gewährt, damit ihr dort euren Studien nachgehen könnt. Doch ihr hattet außerdem einen anderen Grund, hier zu erscheinen, nicht wahr?«
Bruder Dangilas Augen wurden ein wenig schmaler, er erwiderte nichts.
»Ehe du Mönch wurdest, hast du in den Goldminen deiner Heimat gearbeitet, wie du mir selbst berichtet hast, Dangila. Das waren die Minen von Adu-lis, aus denen Gold in die ganze Welt geliefert wird. Schon dein Vater hat dort Gold geschürft, nicht wahr?«
Langsam nickte Bruder Dangila. »Das streite ich nicht ab. Ich habe tatsächlich in den Minen im Schatten des Ras Dashen gearbeitet, ehe ich der Bruderschaft beitrat.«
»Du hast mir erzählt, daß du dort mehr gelernt hast, als nur Gold- oder Kupferadern aufzuspüren«, fuhr Fidelma fort. »Du warst ein wahrer Meister auf deinem Gebiet, wußtest alles über die verschiedenen Bergbautechniken.«
Gleichgültig zuckte der Aksumiter mit den Schultern und schwieg.
»Uns ist bekannt, daß ihr von einem auf Grund gelaufenen Schiff vor unserer Küste gerettet und ins Kloster Molaga gebracht wurdet. Dort seid ihr eine Weile geblieben. Weißt du noch, wie du mir erklärtest, wieso ihr euch entschlossen habt, in die Abtei des heiligen Finnbarr umzuziehen?«
»So kurz ist mein Erinnerungsvermögen nicht«, erwiderte Bruder Dangila. »Doch ich verstehe immer noch nicht .«
»Nur Geduld. Du hast mir gesagt, daß ihr hier die Schriften von Aibhistin über den Mond und sein Wirken studieren wolltet .«
Unter den Versammelten kam Gemurmel auf.
»Das war aber nicht die ganze Wahrheit, oder?« meinte Fidelma vorwurfsvoll.
Bruder Dangila erwiderte nichts. Seine beiden Gefährten Bruder Nakfa und Bruder Gambela tauschten Blicke. Das entging Fidelma nicht.
»Vielleicht hast du nicht einmal deinen Begleitern die ganze Wahrheit über euren Besuch im Land der Cinel na Äeda verraten«, führte sie weiter mit sicherer Stimme aus. Sie hoffte, daß sie deren überraschte Mienen richtig deutete.
Bruder Dangila schwieg weiterhin.
»Accobran hat euch vorgeschlagen, hier in die Abtei zu kommen, wenn ich recht informiert bin«, verkündete Fidelma kühn und setzte alles auf eine Karte.
Der junge Tanist, der die ganze Zeit über mit einem zynischen Lächeln zugehört hatte, fuhr hoch und trat vor.
»Was willst du damit sagen?« rief er. Becc streckte eine Hand vor und gebot ihm zu schweigen.
Fidelma überging den Zwischenfall.
»Was hat dir Accobran als Lohn dafür geboten, daß du in dem alten Stollen Goldadern aufspürst?«
»Das ist unerhört!« rief Accobran aufgebracht und trat wieder vor, doch diesmal versperrte ihm Eadulf den Weg. »Wie kannst du es wagen ...?«
Schwester Fidelma lächelte. »Kraft meines Amtes als dalaigh. Da Bruder Dangila es vorzieht zu schweigen, erzählst du mir vielleicht, was du ihm dafür geboten hast, daß er mit dir in den stillgelegten Stollen ging und die Arbeiten dort beaufsichtigte?«
Becc blickte seinen Neffen voller Empörung an. »Ein Tanist hat die Pflicht, so eine Sache nicht nur mit mir, sondern mit dem Rat der Cinel na Äeda zu besprechen. Er darf nicht eigenmächtig handeln.«