»Ein wenig«, wiederholte er plötzlich und holte tief Luft.
Sie erreichten den Rand des Dorfes. Dickstämmige Bäume überschatteten weiße Ladenfronten, und die Steine des Bürgersteigs liefen so schief wie kindliche Schreibübungen. Eine Frau blieb stehen, um ihnen nachzublicken. Ein Mann auf einem Fahrrad glotzte so lange, bis er in den Graben fuhr und fluchte.
Dorothy lehnte sich japsend und erhitzt an einen Baum und lachte.
»Ich hab' genug von diesem albernen Spiel«, sagte sie mit leuchtenden Augen. »Aber jetzt fühle ich mich weiß Gott besser!«
Aus der heftigen Erregung, die sie - warum, wußten beide nicht -befallen hatte, gelangten sie in einen Zustand tiefster Zufriedenheit und gaben sich Mühe, wieder sittsam zu sein. Sie erhielten die Zigaretten tatsächlich noch, obwohl der Tabakhändler lamentierte, er habe schon seit Stunden gewartet, und Rampole erfüllte sich einen langgehegten Wunsch, indem er sich eine Tonpfeife mit langem Stiel kaufte. Ganz besonders entzückte ihn der Laden des Apothekers, der mit seinen großen Glasbehältern in Rot oder Grün und dem eindrucksvollen Angebot an Heilmitteln aus einem mittelalterlichen Märchen zu stammen schien. Es gab einen Gasthof namens »Bruder Tuck« und einen Pub, der »Ziege und Weintraube« hieß. Auf ihn verzichtete Rampole nur wegen der ihm unerklärlichen Weigerung des Mädchens, ihn in die Bar zu begleiten. Alles in allem war er sehr beeindruckt.
»Man kann sich im Zigarrenladen rasieren und die Haare schneiden lassen«, überlegte er. »Der Unterschied zu Amerika ist doch gar nicht so groß.«
Er war so gut gelaunt, daß selbst harte Prüfungen ihm nichts mehr anhaben konnten. Sie begegneten Mrs. Theodosia Payne, der Frau des Anwalts, die mit ihrem Ouija-Brett, einer Buchstabentafel, mit deren Hilfe ihr die Geister aus dem Jenseits Botschaften übermittelten, die Hauptstraße entlangstolzierte.
Mrs. Payne trug einen gewaltigen Hut. Sie bewegte ihren Mund wie die Puppe eines Bauchredners, sprach jedoch wie ein Hauptfeldwebel. Dennoch lauschte Rampole mit Chesterfield'scher Höflichkeit, während sie die Launen von Lucius beklagte, einem offensichtlich sehr sprunghaften und zügellosen Mitglied der Geisterwelt, das kreuz und quer über das Brett zu rutschen pflegte und seine Worte mit starkem Cockneyeinschlag buchstabierte. Dorothy sah, daß das Gesicht ihres Begleiters gefährlich zu zucken begann, und zog ihn von Mrs. Payne weg, bevor sie beide in einen Heiterkeitsanfall ausbrachen.
Es war fast acht Uhr, als sie sich auf den Rückweg machten. Den beiden machte einfach alles Spaß: von den Straßenlaternen, die gläsernen Särgen ähnelten und mit einer sehr schwindsüchtigen Sorte von Gas brannten, bis zu einem winzigen Laden mit einer Glocke über der Tür, in dem man vergoldete Pfefferkuchentiere und Notenblätter mit längstvergessenen Gassenhauern kaufen konnte. Rampole hatte schon immer eine Leidenschaft für den Erwerb nutzlosen Trödels gehabt, unter den zwei feststehenden Voraussetzungen freilich, daß er ihn nicht brauchte und das Geld zum Ausgeben hatte. Nun, da er ein verwandtes Gemüt gefunden hatte, das ihn nicht für kindisch hielt, gab er dieser Neigung hemmungslos nach. Sie schritten durch eine leuchtende Dämmerung zurück, hielten die Notenblätter wie ein Gesangbuch zwischen sich und schmetterten aus vollster Brust das Klagelied Wo warst du, Willy, wohl am Wochenende - und Dorothy wurde ernsthaft ermahnt, ihre Heiterkeit an den pathetischen Stellen doch etwas zu zügeln.
»Das war großartig«, sagte sie, als sie den Weg, der zu Dr. Fells Haus hinaufführte, fast erreicht hatten. »Mir wäre nie in den Sinn gekommen, daß es in Chatterham irgendwas Interessantes geben könnte. Schade, daß ich jetzt nach Hause muß.«
»Hätte ich auch nie gedacht«, gestand er offen. »Mir schwante nur heute nachmittag schon so was.«
Beide meditierten einen Moment über diese Bemerkung und sahen sich an.
»Wir haben noch Zeit für ein letztes Lied«, schlug er vor, als sei dies das Wichtigste der Welt. »Wollen wir Die Rose vom Blooms-bury-Square versuchen?«
»Oh nein! Dr. Fell ist zwar wirklich lieb, aber etwas Würde muß ich doch bewahren. Die ganze Zeit, die wir im Dorf waren, hat Mrs. Colonel Granby hinter den Gardinen gelauert. Außerdem ist es schon spät... «
»Gut - «
»Also - «
Beide zögerten. Rampole kam alles ein wenig unwirklich vor, sein Herz pochte wild. Der vorhin noch gelbe Himmel hatte eine trübe, purpurrandige Färbung angenommen. Der süßliche Geruch der Hecken war beinahe überwältigend geworden. Ihre Augen waren sehr stark, sehr lebhaft, doch wie von Schmerz verschleiert. Verzweifelt suchte sie etwas in seinem Gesicht. Obgleich auch er nur in ihre Augen sah, spürte er doch, daß ihre Hände sich ihm entgegenstreckten...
Er ergriff sie. »Lassen Sie mich Sie nach Hause begleiten«, sagte er ernst. »Lassen Sie mich - «
»Ahoi da unten!« dröhnte eine Stimme. »Eine Sekunde. Wartet.«
Rampole spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Er zitterte und fühlte an ihren warmen Händen, daß sie ebenfalls zitterte. Die Stimme war in eine gefühlsgeladene Spannung eingebrochen und hatte beide in Verwirrung gestürzt. Das Mädchen begann zu lachen.
Keuchend erschien Dr. Fell auf dem Weg. Hinter ihm erblickte Rampole eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Ja, es war Payne, die krumme Pfeife im Mund. Er schien darauf herumzukauen. Nach ein paar kurzweiligen Stunden kehrte also die Beklemmung zurück.
Der Doktor sah besorgt aus. Er stand da und schnappte nach Luft, einen Stock an ein Bein gelehnt.
»Ich möchte Sie nicht unnötig beunruhigen, Dorothy«, begann er, »und ich weiß auch, daß die Sache eigentlich tabu ist. Doch das ändert nichts daran, daß die Zeit gekommen ist, einmal offen darüber zu sprechen - «
»Ähäm!« räusperte sich Payne warnend. »Der - äh - Gast?«
»Er ist informiert. - Nun, meine Liebe, es geht mich nichts an, ich weiß - «
»Sagen Sie schon!« Sie faltete die Hände.
»Ihr Bruder war hier. Wir machen uns etwas Sorgen über seinen Zustand. Ich spreche nicht von der Trinkerei, das geht vorüber. Ihm wurde übel, und als er ging, war er fast wieder nüchtern. Es ist die Angst. Wir merkten es deutlich an seinem hitzigen und trotzigen Benehmen. Wir möchten nicht gern, daß er sich in etwas hineinsteigert und wegen dieser blöden Sache vielleicht Dummheiten macht, verstehen Sie?«
»Und? Fahren Sie fort.«
»Der Pfarrer und Ihr Vetter haben ihn nach Hause gebracht. Saunders ist sehr bestürzt wegen allem. Schauen Sie, ich sage es ganz offen: Sie wissen doch, daß Ihr Vater, bevor er starb, Saunders etwas als eine Art Beichtgeheimnis anvertraut hat. Saunders glaubte damals, er hätte den Verstand verloren. Aber jetzt kommen ihm Zweifel. Es mag überhaupt nichts an der Sache dran sein, aber - bloß für den Fall des Falles werden wir Wache halten. Von hier aus kann man das Fenster des Gouverneurszimmers gut sehen, unser Haus ist ja nicht viel mehr als dreihundert Meter vom Gefängnis entfernt. Verstehen Sie?«
»Ja!«
»Saunders, ich selbst und Mr. Rampole, wenn er will, werden hier die ganze Zeit über Wache halten. Der Mond wird bald aufgehen, und wir können beobachten, wann Martin hineingeht. Alles, was wir zu tun haben, ist, uns am Rand der Wiese hier zu postieren, von wo wir eine gute Sicht auf das Eingangstor haben. Ein Geräusch, eine Störung, irgend etwas Verdächtiges - und Saunders und der junge Bursche hier sind schneller über die Wiese, als ein Geist sich davonmachen könnte.« Er lächelte und legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Das sind alles Hirngespinste, ich weiß, und ich bin nur ein verrückter alter Mann. Aber ich kenne Ihre Familie schon sehr lange, wissen Sie? Gut, also, wann beginnt seine Nachtwache?«