»Wir können jetzt nichts weiter tun«, sagte Dr. Fell, »als abwarten.« Weit entfernt im Westen rollte der Donner mit dem Geräusch einer Bowlingkugel, die, ohne einen Kegel zu treffen, die Holzbahn entlangpoltert. Rampole nahm einen langen Schluck von dem kalten Bier. Das war schon besser! Der Mond schien nicht sonderlich hell, doch der Wiesenhang schwamm bereits in einem dünnmilchigen Licht, das allmählich auch die Mauern überzog.
»Welches ist das Fenster des Gouverneurszimmers?« fragte er leise.
Der rotglühende Pfeifenkopf wies hinüber. »Das große da - das einzige große. Fast in gerader Linie von hier, sehen Sie's? Direkt daneben ist eine Eisentür, die zu einem kleinen Steinbalkon führt. Dort stellte sich früher der Gouverneur auf, um den Hinrichtungen beizuwohnen.«
Rampole nickte. Die ganze diesseitige Mauer des Gefängnisses war mit Efeu überzogen; es wucherte besonders üppig, wo das Mauerwerk durch sein eigenes Gewicht in den Kamm des Hügels eingesunken war. Im milchigen Licht waren Ranken erkennbar, die von den schweren Fenstergittern herabhingen. Unterhalb des Balkons, allerdings beträchtlich tiefer, befand sich noch eine Eisentür. Vor dieser Tür fiel der Kalkfelsen steil ab bis zu den emporragendenden Föhren des Hexenwinkels.
»Und diese untere Tür ist vermutlich diejenige, durch die man die Verurteilten hinausführte?«
»Ja. Sie können heute immer noch die drei Steinblöcke mit den Löchern darin sehen, die das Gerüst des Galgens hielten. Der Steinrand des Brunnens wird von diesen Bäumen verdeckt. Als der Brunnen noch benutzt wurde, waren die natürlich noch nicht da.«
»Und da rein warf man alle Toten?«
»Allerdings. Man fragt sich, warum nicht noch nach hundert Jahren die ganze Gegend hier verseucht ist. Denn der Brunnen beherbergt alles mögliche Ungeziefer. Dr. Markley versucht seit fünfzehn Jahren, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen; aber weil es sich um Land der Starberths handelt, hat er weder die Bezirksverwaltung noch die Gemeinde bewegen können, etwas dagegen zu tun. Hm.«
»Und die Starberths dulden nicht, daß er zugeschüttet wird?«
»Nein. Auch der Brunnen ist Bestandteil dieses alten Firlefanz; ein Relikt von Anthony aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ich habe mir nochmal Anthonys Tagebuch angesehen. Und wenn ich daran denke, wie er starb, dazu gewisse rätselhafte Andeutungen in seinem Tagebuch, dann glaube ich manchmal...«
»Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie er gestorben ist«, bemerkte Rampole ruhig.
Doch in dem Moment, wo er das sagte, fragte er sich, ob er es überhaupt wissen wollte. Gestern abend noch, dachte er, war er sicher gewesen, daß etwas Nasses über die Mauern des Gefängnisses geblickt hatte. Tagsüber war ihm nichts aufgefallen. Jetzt nahm er einen ausgeprägten Modergeruch wahr, der offenbar vom Hexenwinkel über die Wiesen herübergeweht wurde.
»Ich vergaß«, murmelte der alte Gelehrte. »Ich wollte es Ihnen heute nachmittag vorlesen, als Mrs. F. uns unterbrach. Hier.« Papier raschelte, dann wurde ihm ein dickes Bündel Blätter in die Hand gedrückt. »Nehmen Sie es mit nach oben. Ich möchte, daß Sie es lesen, um sich ein eigenes Bild davon zu machen.«
Quakten dort Frösche? Er glaubte, es durch das Pulsieren und Summen der Mücken deutlich zu hören. Oh Gott! Dieser Modergeruch wurde wirklich stärker, es war keine Einbildung. Es mußte eine natürliche Erklärung dafür geben - vom Boden aufsteigende Tageshitze oder so etwas. Er hätte sich gewünscht, mehr über solche Naturvorgänge zu wissen. Die Bäume begannen wieder unruhig zu flüstern. Im Innern des Hauses schlug eine Uhr ein einzelnes Bong.
»Halb elf«, brummte sein Gastgeber, »und ich glaube, dort kommt das Auto des Pfarrers den Weg herauf.«
Tanzende Scheinwerfer blitzten undeutlich herüber. Ein uraltes Ford-T-Modell (über das immer diese Witze gemacht wurden) schaukelte ratternd und stampfend heran, wendete und hielt; der Pfarrer wirkte riesenhaft auf seinem Ausguck. Er eilte im Mondlicht zu ihnen herüber und brachte einen Stuhl vom Rand der Wiese mit. Das betont Freundliche seines Gehabes war jetzt nicht mehr so deutlich. Rampole hatte plötzlich den Eindruck, Saunders führe sich wohl vor allem aus gesellschaftlichen Gründen so auf, um eine hochgradige Scheu zu überspielen. Sein Gesicht war nicht deutlich zu erkennen, doch man merkte, daß er schwitzte. Er schnaufte, als er sich niederließ.
»Ich habe noch schnell einen Happen gegessen«, sagte er, »und bin dann geradewegs hierher. Ist alles vorbereitet?«
»Alles. Sie ruft an, sobald er losgeht. Hier, nehmen Sie eine Zigarre und ein Glas Bier. Wie ging es ihm, als Sie ihn zuletzt sahen?«
Eine Flasche klirrte gegen ein Glas. »Er war nüchtern genug, um Angst zu haben«, antwortete der Pfarrer. »Sobald wir im Herrenhaus waren, ging er an die Bar. Ich war mir nicht sicher, ob ich seine Trinkerei unterbinden sollte. Herbert kümmert sich jetzt um ihn. Als ich vom Herrenhaus wegfuhr, saß er oben in seinem Zimmer und zündete eine Zigarette an der anderen an. Er muß in der kurzen Zeit, die ich dort war, eine ganze Schachtel geraucht haben. Ich - äh - ich wies ihn auf die nachteilige Wirkung von soviel Nikotin - nein danke, ich rauche nicht - für seinen Organismus hin, aber da sprang er mir fast ins Gesicht.«
Alle schwiegen jetzt. Rampole ertappte sich dabei, wie er auf den nächsten Schlag der Uhr wartete. Martin Starberth würde das, an einem anderen Ort, ebenfalls tun.
Im Haus schrillte das Telefon.
»Das ist sie. Nehmen Sie die Nachricht entgegen, mein Junge?« fragte Dr. Fell. Sein Atem ging ein wenig schneller. »Sie sind flinker als ich.«
In seiner Hast stolperte Rampole beinahe über die Eingangsstufen. Das Telefon war von jener altertümlichen Sorte, an der man kurbeln mußte. Mrs. Fell hielt ihm bereits den Hörer hin.
»Er ist auf dem Weg«, sagte die Stimme von Dorothy Starberth. Sie klang bewundernswert gefaßt. »Ihr werdet ihn gleich auf der Straße sehen. Er hat eine Fahrradlampe mitgenommen.«
»Wie geht es ihm?«
»Er spricht etwas schwerfällig, ist aber nüchtern genug.« Ziemlich heftig fügte sie hinzu: »Aber dir geht's doch gut, oder?«
»Ja. Mach dir jetzt bitte keine Sorgen mehr. Wir werden uns um alles kümmern. Er ist in keiner Gefahr, Liebes.«
Erst auf dem Weg hinaus besann er sich des letzten Wortes, das er am Telefon unbewußt gebraucht hatte. Trotz aller Aufregung stutzte er. Es mußte ihm in diesem Moment völlig selbstverständlich gewesen sein.
»Nun, Mr. Rampole«, dröhnte der Pfarrer aus dem Dunkel.
»Er ist aufgebrochen. Wie weit ist das Herrenhaus vom Gefängnis entfernt?«
»Es liegt eine Viertelmeile dahinter, Richtung Bahnhof. Sie müssen dort gestern abend vorbeigekommen sein.«
Saunders klang zerstreut, doch schien er sich jetzt, wo die Sache losging, wohler zu fühlen. Er und der Doktor waren zur Vorderseite des Hauses gekommen. Er wandte sich um, sein großes Gesicht glänzte im Mondschein. »Ich habe mir den ganzen Tag über die fürchterlichsten Dinge ausgemalt... Als diese Sache noch weit weg war, habe ich darüber gelacht. Aber jetzt, wo es soweit ist... ja, der alte Timothy Starberth... «
Irgend etwas beunruhigte das Eton-Gewissen des guten Pfarrers. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn, dann fragte er:
»Hören Sie, Mr. Rampole, war Herbert da?«
»Wieso Herbert?« fragte der Doktor scharf.
»Ich - äh - ich wünschte nur, er wäre hier. Der junge Mann ist so zuverlässig. Solide und zuverlässig. Kennt keine Nerven, bewundernswert. Sehr englisch, sehr bewundernswert.«
Wieder das Rollen des Donners, verhalten und in weiter Ferne. Eine frische Brise wehte durch den Garten, weiße Blüten tanzten. Ein Blitz zuckte so kurz, als teste ein Elektriker die Beleuchtung der Bühne vor Beginn des Stückes.