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»Wir sollten lieber achtgeben, daß er sicher hineinkommt«, gab der Doktor verdrießlich zu bedenken. »Wenn er betrunken ist, könnte er böse stürzen. Hat sie gesagt, ob er betrunken war?«

»Nicht sehr.«

Sie trotteten den Weg hinunter. Auf dieser Seite lag das Gefängnis im eigenen Schatten, doch Dr. Fell zeigte die ungefähre Position des Eingangstores. »Ist natürlich kein Tor mehr drin«, erklärte er. Der felsige Hang, der sich dort hinaufzog, war im Mondlicht recht gut zu erkennen. Ein schmaler Weg führte in engen Kurven bis fast in den Schatten des Gefängnisses. Ungefähr zehn Minuten lang sprach niemand. Rampole versuchte eine Weile, den Rhythmus eines Grillenzirpens herauszufinden, indem er zwischen den einzelnen Strophen die Sekunden zählte, aber er verlor sich in einem Labyrinth von Zahlen. Ein Windstoß blähte sein Hemd mit wohltuender Kühle.

»Da ist er«, sagte Saunders unerwartet.

Ein weißer Lichtstrahl strich über den Hügel. Dann erschien auf dem Kamm eine Gestalt, die sich langsam, aber stetig vorwärtsbewegte. Es wirkte unheimlich, weil es aussah, als stiege sie aus der Erde auf. Die Gestalt war bemüht, sich mit sorglosem Schwung zu bewegen, doch das Licht strich immer wieder hierhin und dorthin - als leuchte Martin Starberth bei jedem leisen Geräusch in die entsprechende Richtung. Als Rampole das sah, spürte er den Schrecken, der den schlanken, hochmütigen, angetrunkenen Mann dabei jedesmal überfallen mußte. Er wirkte sehr winzig auf die Entfernung. Am Tor zögerte er kurz. Das Licht bewegte sich nicht mehr, beleuchtete nur flackernd einen gähnenden Torbogen. Dann wurde es vom Inneren verschluckt.

Die Beobachter gingen wieder hinauf und sanken schwer in ihre Sessel.

Im Haus begann es elf Uhr zu schlagen.

» - wenn sie ihm bloß gesagt hat, sich ganz nah ans Fenster zu setzen!« Der Pfarrer mußte schon eine ganze Weile vor sich hin gemurmelt haben, doch Rampole achtete erst jetzt darauf. Der Geistliche breitete die Arme aus. »Trotzdem, wir müssen vernünftig - wir müssen - was kann ihm schon passieren? Sie wissen so gut wie ich, Gentlemen...«

Bong. Gemächlich schlug die Uhr. Bong, vier, fünf-

»Trinken wir noch ein Bier«, meinte Dr. Fell. Die sanfte, salbungsvolle Stimme des Pfarrers, die jetzt ganz schrill klang, schien ihn zu irritieren.

Wieder warteten sie. Das Hallen der Schritte im Gefängnis, vorüberhuschende Ratten und Eidechsen, wenn das Licht suchend umherstreifte - in seiner angespannten Phantasie konnte es Rampole beinahe hören. Eine Szene aus Dickens kam ihm in den Kopf; eine diesige Nacht mit Nieselregen, jemand schleicht am Newgate-Gefängnis entlang und sieht durch ein vergittertes Fenster die Wächter an ihren Feuern sitzen, ihre Schatten flackern an der weißgetünchten Wand.

Ein schwaches Licht erschien jetzt im Gouverneurszimmer. Dann bewegte es sich nicht mehr. Die Fahrradlampe war sehr stark, sie schnitt einen horizontalen, schnurgeraden Lichtstreifen ins Dunkel, gegen den sich die Fenstergitter abhoben. Offensichtlich war sie auf einem Tisch abgestellt worden und sandte jetzt ihren Strahl ohne weitere Bewegung in eine Ecke des Raumes. Das war alles: der winzige Pfeil aus Licht hinter efeuumrankten Gittern, einsam vor dem riesigen efeubewachsenen Koloß des Gefängnisses. Der zitternde Schatten eines Mannes erschien und verschwand wieder. Er schien einen unglaublich langen Hals zu haben, dieser Schatten.

Rampole bemerkte zu seiner Überraschung, daß sein Herz heftig pochte. Man mußte etwas tun; man mußte sich konzentrieren. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Sir«, sagte er zu seinem Gastgeber, »dann würde ich gerne hinauf in mein Zimmer gehen und einen Blick in die Aufzeichnungen der beiden Gouverneure werfen. Ich kann das Fenster auch von dort oben im Auge behalten. Und ich muß es einfach wissen.«

Auf einmal schien es ihm von entscheidender Wichtigkeit zu erfahren, wie diese Männer zu Tode gekommen waren. Er betastete die Blätter, die von seiner Hand ganz feucht waren. Er mußte sie wohl die ganze Zeit gepackt gehalten haben, selbst als er den Telefonhörer in der Hand hatte. Dr. Fell grunzte etwas, scheinbar ohne ihn gehört zu haben.

Als er die Treppe hinaufging, wiederholte sich das Rollen des Donners, als erschüttere ein vorüberfahrender Lastwagen die Fensterscheiben. Das Zimmer wurde nun von einer angenehmen Brise durchlüftet, strahlte aber immer noch Hitze ab. Er zündete die Lampe an, zog den Tisch ans Fenster und legte die Manuskriptblätter vor sich hin. Bevor er sich setzte, warf er einen kurzen Blick in die Runde. Die Blätter mit Gassenhauern, die er am Nachmittag gekauft hatte, lagen auf dem Bett verstreut, daneben die langstielige Tonpfeife.

Plötzlich hatte er die sonderbare Vorstellung, wenn er jetzt die Pfeife rauchte, könnte ihn dieses Relikt aus unbeschwerter Zeit Dorothy Starberth näherbringen. Doch kaum nahm er sie in die Hand, kam er sich töricht vor und schimpfte sich selber aus. Als er sie zurücklegen wollte, gab es ein Geräusch. Das zerbrechliche Tonstück rutschte ihm aus den Fingern und zerschellte auf dem Boden. Er war so erschrocken, als habe er etwas Lebendiges zerstört. Er starrte die Scherben an, dann eilte er hinüber und setzte sich mit dem Gesicht zum Fenster. Käfer schwärmten tickend gegen den Fliegendraht. Weit jenseits der Wiese leuchtete stetig ein winziges Licht im Fenster des Gefängnisses, und unter sich hörte er die Stimmen des Pfarrers und Dr. Fells im murmelnden Gespräch.

Tagebuch des A. Starberth, Esquire

PRIVAT (8ter Septembri 1797: Dies ist das Erste Jahr der Gottgefälligen Täthigkeit der Anstalt zu Chatterham in der Grafschaft Lincoln; zugleich das Siebenunddreyssigste der Herrschaft Seyner Königlichen Majestät, Georgs III.)

QUAE INFRA NOS NIHIL AD NOS

Diese Schreibmaschinenblätter vermittelten einen lebendigeren Eindruck, dachte Rampole, als es die vergilbten Orginale vermocht hätten. Man stellte sich die Handschrift klein, scharf und präzise vor, wie den Schreiber selbst, mit seinen schmalen, zusammengepreßten Lippen. Es folgte eine wunderliche Komposition im besten literarischen Stil der Zeit, eine Hymne auf die Majestät der Gerechtigkeit und den Adel der Bestrafung aller Übeltäter. Unvermittelt wurde der Ton dann geschäftsmäßig.

ZU HÄNGEN am Dienstag die folgenden Delinqu.:

John Hepditch, wegen Straßenraub Lewis Martens, für das Verbreiten falscher Banknoten in Höhe von £2

Holzkosten zur Errichtung des Galgens: 2 Schilling 4 Pence. Entlohnung des Geistlichen: 10 Pence - worauf ich gut verzichten könnte, wäre es nicht vom Gesetz vorgeschrieben. Die zween Männer sind von niederer Geburt und geringem Bedarf an geisthli-cher Tröstung.

Heute habe ich die Ausschachtungsarbeiten für den Brunnen bis zur stattlichen Tiefe von 25 Fuß bei einem Durchmesser von 18 Fuß überwacht. Es handelt sich eher um eine Grube als um einen Brunnen, und sie ist dafür vorgesehen, die Kadaver der Verbrecher aufzunehmen, um unnöthige Kosten für ein Begräbnis zu sparen, und zugleich stellt sie eine höchst löbliche Schutzvorrichtung nach dieser Seite hin dar. Der Rand wurde auf meinen Befehl mit einer Reihe angespitzter Eisenstäbe gespickt.

Ich bin sehr verärgert, daß meyn neuer scharlachroter Anzug, den ich vor sechs Wochen zusammen mit dem betreßten Huth bestellt habe, nicht mit der Postkutsche angekommen ist. Denn ich habe mich entschlossen, bei den Hinrichtungen eine besondere Erscheinung abzugeben. In Scharlachrot - wie ein Richter - werde ich, davon bin ich recht überzeugt, eine imposante Figur machen. Ich habe ein paar Sätze vorbereitet, die ich vom Balkon sagen werde. Dieser John Hepditch hat, wie mir zu Ohren gekommen ist, trotz seines niedrigen Standes ein recht loses Maul, und ich muß Sorge tragen, daß er mich nicht übertrumpft.