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Inzwischen hatten sich die Wolken verzogen, und die blutleere Herbstsonne stand niedrig an dem blaßblauen Himmel - hell, doch ohne Wärme. Cass hatte recht behalten, das Wetter war umgeschlagen.

Kapitel 4

Die mittägliche Angelusglocke läutete bereits, als Fidelma und ihre Begleiter die Abtei von Ros Ailithir erblickten. Sie waren länger unterwegs gewesen, als sie gedacht hatte, denn der Tag war zwar warm und hell, doch die Wege waren noch feucht und morastig und schwer zu begehen.

Die Abtei war größer, als Fidelma es sich vorgestellt hatte, sie nahm mit ihren mächtigen grauen Steingebäuden einen ganzen Berghang oberhalb eines engen Meeresarms ein. Letzterer war so lang und schmal, daß man ihn kaum eine Bucht nennen konnte. Sie bemerkte flüchtig, daß mehrere Schiffe darin vor Anker lagen, dann wandte sie ihren Blick wieder den grauen Häusern zu. Es waren mehrere große Gebäude hinter einer hohen dunklen Granitmauer, die sich in einem Oval um sie herum zog. In ihrer Mitte erkannte man die imposante Abteikirche, ein bemerkenswertes und ungewöhnliches Bauwerk. Die meisten Kirchen in den fünf Königreichen waren rund gebaut, diese jedoch war in Form eines Kreuzes errichtet, mit einem langen Hauptschiff und Querschiffen im rechten Winkel dazu. Fidelma wußte, daß sich dieser Stil bei den neuen Kirchenbauherren wachsender Beliebtheit erfreute. Daneben stand ein hohes cloictheach, ein Glockenhaus, aus dem ein feierliches Läuten herausdrang und in dem engen Tal widerhallte, das sich zum Wasser hinabsenkte.

Eins der Kinder, es war der jüngere der beiden schwarzhaarigen Brüder, stöhnte leise und begann zu zittern. Sein Bruder sprach scharf, aber gedämpft auf ihn ein.

»Was ist mit ihm?« fragte Cass. Er stand den beiden Jungen am nächsten.

»Mein Bruder glaubt, es würde uns schlecht ergehen, wenn wir zu Erwachsenen kommen«, erklärte der Ältere ernst. »Er fürchtet sich, nach dem, was gestern geschehen ist.«

Cass lächelte dem jüngeren Knaben beruhigend zu. »Hab keine Angst, mein Junge. Hier wird dir niemand etwas tun. Es ist eine heilige Abtei. Man wird dir helfen.«

Der Ältere flüsterte seinem kleinen Bruder erneut etwas ins Ohr und wandte sich dann an Cass: »Nun ist er beruhigt.«

Allen Kindern war die Ermüdung und Erschöpfung nach ihren schrecklichen Erlebnissen anzumerken. Sie waren körperlich und mit den Nerven am Ende. Bei der unruhigen Rast in der kalten Nacht hatten sie sich nicht erholt, und im Laufe des Vormittags hatten sie einen schwierigen Weg zurückgelegt.

»Ich wußte gar nicht, daß die Abtei so groß ist«, bemerkte Fidelma fröhlich zu Cass, sie versuchte, die Gruppe ein wenig aufzuheitern.

»Ich habe gehört, daß hier Hunderte zum Glauben Bekehrte studieren«, erwiderte Cass gleichgültig.

Das Glockengeläut verstummte plötzlich.

Fidelma gab das Zeichen zum Weitergehen. Sie war ein wenig beunruhigt, weil sie den Ruf zum Gebet nicht befolgt hatte. Doch sie hatte erst Zeit, innezuhalten und zu beten, wenn sie und ihre erschöpften Schützlinge sicher hinter den Mauern der Abtei waren. Besorgt schaute sie Schwester Eisten an, sie schien in trauriges Sinnen versunken. Fidelma schrieb dies dem Schock über den Tod des Babys zu. Bald nach dem Aufbruch war Eisten in trübsinnige Niedergeschlagenheit verfallen und schien ihre Umgebung gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie ging automatisch weiter, den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet, und gab keine Antwort, wenn sie angesprochen wurde. Fidelma war aufgefallen, daß sie nicht einmal die Augen hob, als Ros Ailithir in Sicht kam und man die Glocken hörte. Ja, es war wichtiger, die Gruppe in die Abtei zu bringen, als die vorgeschriebenen Gebete zu verrichten.

Als sie sich den Mauern der Abtei näherten, sah sie einige Mönche, die auf den umliegenden Feldern arbeiteten. Anscheinend schnitten sie Kohl fürs Viehfutter. Ein paar neugierige Blicke trafen sie, aber die meisten Männer arbeiteten fleißig weiter an diesem kalten Herbstmorgen.

Die Tore der Abtei standen offen. Neben dem Tor sah Fidelma ein Bündel von geflochtenen Weiden-und Espenzweigen hängen. Sie versuchte sich zu erinnern, was das bedeutete, aber es fiel ihr nicht ein. Am Tor erwartete sie ein untersetzter Mann mittleren Alters in Mönchskleidung. Das Haar, das ihm die Tonsur gelassen hatte, war lang und graumeliert. Er wirkte muskulös, und seine finstere Miene deutete an, daß mit ihm nicht zu spaßen war.

»Bene vobis«, intonierte er mit tiefem Bariton den üblichen Gruß.

»»Deus vobiscum«, antwortete Schwester Fidelma automatisch und entschied sich dann dafür, auf die restlichen Höflichkeiten zu verzichten. »Diese Kinder brauchen Essen, Wärme und Ruhe«, forderte sie ohne weitere Vorrede. Die Augen des Mannes weiteten sich vor Erstaunen. »Diese Schwester hier auch. Sie haben Schlimmes erlebt. Ich muß euch darauf hinweisen, daß sie mit der Gelben Pest in Berührung gekommen sind und deshalb sofort von eurem Arzt untersucht werden müssen. Inzwischen möchten mein Begleiter und ich zum Abt Brocc geführt werden.«

Der Mann stotterte vor Verblüffung, daß eine junge Nonne so viele Befehle erteilte, bevor ihr ordnungsgemäß die Gastfreundschaft der Abtei gewährt worden war. Seine Brauen zogen sich zusammen, und er öffnete den Mund zum Protest.

Fidelma schnitt ihm das Wort ab.

»Ich bin Fidelma von Cashel. Der Abt erwartet mich sicherlich«, setzte sie mit Bestimmtheit hinzu.

Der Mann stand mit offenem Mund da und schluckte wie ein Fisch. Als Fidelma ihre Gruppe an ihm vorbei durch das Tor führte, faßte er sich. Er eilte ihr nach auf den großen gepflasterten Hof.

»Schwester Fidelma ... wir, das heißt ...« Er war offensichtlich verwirrt von ihrem formlosen Eindringen. »Wir erwarten dich seit gestern oder so etwa. Wir wurden vorgewarnt . verständigt . dich zu erwarten ... Ich bin Bruder Conghus, der aistreoir der Abtei. Was ist passiert? Wer sind diese Kinder?«

»Überlebende aus Rae na Scrine, das bei einem Überfall niedergebrannt wurde«, antwortete Fidelma knapp.

Der Mönch schaute von den mitleiderregenden Kindern zu Schwester Eisten. Plötzlich erkannte er sie.

»Schwester Eisten! Was ist passiert?«

Die junge Frau starrte gedankenverloren ins Leere und reagierte nicht.

Der Mönch wandte sich wieder an Fidelma; er war sichtlich durcheinander.

»Schwester Eisten ist in der Abtei wohlbekannt. Sie führte das Waisenhaus in Rae na Scrine. Bei einem Überfall zerstört, sagst du?«

Fidelma nickte bestätigend.

»Das Dorf wurde von einem Trupp angegriffen, den ein Mann namens Intat anführte. Nur Schwester Eisten und diese Kinder blieben am Leben. Ich verlange Asyl für sie.«

»Du hast auch etwas von der Gelben Pest gesagt«, erinnerte sie Bruder Conghus leicht verwirrt.

»Ich habe gehört, der Grund für diesen furchtbaren Überfall soll der Ausbruch der Gelben Pest in dem Dorf gewesen sein. Deshalb bitte ich darum, den Arzt der Abtei zu rufen. Fürchtet ihr euch hier vor der Gelben Pest?«

Bruder Conghus schüttelte den Kopf.

»Mit Gottes Hilfe sind die meisten in dieser Abtei bisher von ihr verschont geblieben. Im letzten Jahr trat die Pest viermal auf, hat aber nur wenige Opfer unter den Schülern hier gefordert. Wir fürchten die Krankheit nicht mehr. Ich kümmere mich darum, daß jemand die arme Schwester Eisten und ihre Schützlinge ins Gästehaus bringt. Dort wird man sie gut versorgen.«

Er winkte eine vorbeigehende Novizin heran, ein hochgewachsenes Mädchen mit etwas breiten Schultern und ungeschickter Haltung.

»Schwester Necht, führe diese Schwester und die Kinder in das Gästehaus. Sag Bruder Rumann, er soll Bruder Midach rufen, damit der sie untersucht. Dann sorge dafür, daß sie zu essen bekommen und sich ausruhen können. Ich werde gleich mit Midach sprechen.«