Seine Befehle erteilte er kurz und abgehackt. Fidelma bemerkte, daß das Mädchen zögerte und mit vor Überraschung offenem Munde Eisten und die Kinder anstarrte, die sie wohl erkannte. Dann riß es sich zusammen und beeilte sich, die Kinder und Eisten wegzuführen. Bruder Conghus wandte sich wieder Fidelma zu. »Bruder Midach ist unser leitender Arzt und Rumann unser Verwalter. Sie werden sich um
Schwester Eisten und die Kinder kümmern«, erklärte er überflüssigerweise. Er wies über den Hof. »Ich bringe euch zum Abt. Kommt ihr direkt aus Cashel?«
»Ja«, bestätigte Cass, während sie ihm folgten. Als Krieger wies er auf etwas hin, was Fidelma versäumt hatte. »Unsere Pferde müssen trockengerieben und gefüttert werden, Bruder.«
»Ich versorge eure Pferde, sobald ich euch zum Abt geführt habe«, antwortete Conghus.
Der Torhüter der Abtei eilte mit unziemlicher Hast über den gepflasterten Hof und durch die Gebäude und drängte sie von Zeit zu Zeit, ihm schneller zu folgen. Fidelma und Cass gingen jedoch in einem gemächlicheren Tempo, denn sie waren müde. Der Weg schien kein Ende zu nehmen, aber endlich stiegen sie die Treppe zu einem großen, etwas abseits liegenden Haus empor, der aistreoir verhielt vor einer dunklen Eichentür und machte ihnen ein Zeichen zu warten, während er anklopfte und durch die Tür verschwand. Nach wenigen Augenblicken erschien er wieder und winkte sie herein.
Sie betraten ein großes gewölbtes Zimmer, dessen kalte graue Steinwände mit farbigen Teppichen be-hangen waren, die Szenen aus dem Leben Christi darstellten. Im Kamin glomm ein Feuer, und der Duft von Weihrauch erfüllte den Raum. Der Boden war mit weichen Wollteppichen belegt. Das Zimmer war reich möbliert und mit prächtigem Zierat ausgeschmückt. Der Abt von Ailithir hielt anscheinend nicht viel von Bescheidenheit.
»Fidelma!«
Ein hochgewachsener Mann erhob sich hinter einem dunklen polierten Eichenholztisch. Er war mager, hatte eine Hakennase, durchdringende blaue Augen, und sein rotes Haar war zu einer Tonsur irischer Art geschnitten, vorn geschoren bis zu einer Linie von Ohr zu Ohr und hinten lang herabhängend. Seine Gesichtszüge verrieten dem Kennerblick eine Ähnlichkeit mit Fidelma.
»Ich bin dein Vetter Brocc«, erklärte er mit tönendem Baß. »Ich habe dich nicht gesehen, seit du ein Kind warst.«
Die Begrüßung sollte warm ausfallen, doch irgendwie gelang ihm das nicht. Es schien, als wäre er mit den Gedanken woanders, während er sie willkommen hieß.
Auch als er zur Begrüßung Fidelma beide Hände entgegenstreckte, waren sie kalt und schlaff. Fidelma hatte aus ihrer Kindheit kaum eine Erinnerung an ihren Vetter. Das war nur natürlich, denn Abt Brocc war mindestens zehn oder fünfzehn Jahre älter als sie.
Sie erwiderte seine Begrüßung mit bemühter Förmlichkeit und stellte dann Cass vor.
»Cass ist mir zu meiner Unterstützung in dieser Angelegenheit von meinem Bruder Colgü beigegeben worden.«
Brocc musterte Cass unsicher, und sein Blick fiel auf Cass’ Hals. Der Krieger hatte seinen Mantel geöffnet, und der goldene Halsreif, sein Rangabzeichen, war zu sehen. Cass erfaßte die Hand des Abts mit festem Griff, und Fidelma sah, wie Brocc unter dem Druck das Gesicht verzog.
»Komm, setz dich, Kusine. Du auch, Cass. Mein Torhüter, Bruder Conghus, hat mir berichtet, daß mit euch Schwester Eisten und ein paar Kinder aus Rae na Scrine hier eingetroffen sind. Eistens Mission dort untersteht der Rechtsprechung dieser Abtei, deshalb sind wir sehr besorgt über das, was dort vorgefallen ist. Erzählt mir die Geschichte.«
Fidelma sah Cass an, der erschöpft auf einem Stuhl zusammengesunken war. Der junge Krieger las die Aufforderung in ihrem Blick und berichtete kurz, wie sie Eisten und die Kinder in Rae na Scrine gefunden hatten.
Broccs Gesicht wurde zornig, und er tippte sich nachdenklich auf den Nasenrücken.
»Das ist eine üble Angelegenheit. Ich werde sofort einen Boten an Salbach, den Fürsten der Corco Loig-de, schicken. Er wird Intat und seine Leute für dieses furchtbare Verbrechen bestrafen lassen. Überlaßt es mir, das zu regeln. Ich sorge dafür, daß Salbach sogleich davon erfährt.«
»Und Schwester Eisten und ihre Schützlinge?« fragte Fidelma.
»Für sie braucht ihr nichts zu befürchten. Wir werden hier für sie sorgen. Wir haben einen guten Krankensaal, und unser Arzt, Bruder Midach, hat im letzten Jahr schon zehn Fälle der Gelben Pest behandelt. Gott war uns gnädig. Drei der Erkrankten hat er geheilt. Wir fürchten uns hier nicht vor der Pest. Und ist es nicht auch richtig, daß wir uns nicht fürchten? Wir halten uns ja an den Glauben und stehen in Gottes gütiger Hand.«
»Ich freue mich sehr, daß du die Dinge so betrachtest«, antwortete Fidelma. »Ich hatte es nicht anders erwartet.«
Cass überlegte einen Moment, ob sie sich über Broccs fromme Haltung lustig machte.
»Also«, begann Brocc und musterte sie mit seinem kühlen Blick, »kommen wir nun zu dem Hauptzweck eures Besuches hier.«
Fidelma stöhnte innerlich. Sie hätte lieber erst geschlafen und ihren Seelenfrieden wiedergefunden, bevor sie sich dieser Angelegenheit zuwandte. Etwas essen und schlafen ... Aber Brocc hatte wohl recht, die Sache duldete keinen Aufschub.
Während sie sich ihre Antwort zurechtlegte, erhob sich Brocc und stellte sich an ein Fenster, das auf den Meeresarm hinausging, wie sie selbst aus ihrer sitzenden Haltung feststellen konnte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, starrte der Abt hinunter.
»Mir ist klar, Kusine, daß die Zeit knapp ist«, sagte er langsam. »Mir ist auch klar, daß ich als Abt für den Tod des Ehrwürdigen Dacan verantwortlich gemacht werde. Für den Fall, daß ich das nicht wüßte, hat mir der König von Laigin etwas geschickt, um mich daran zu erinnern.«
Fidelma sah ihn einen Augenblick verdutzt an.
»Was meinst du damit?« sprach Cass die Frage aus, die ihr auf der Zunge lag.
Brocc nickte zum Fenster hinaus.
»Seht dort hinunter, zur Mündung des Meeresarms.«
Fidelma und Cass standen auf und traten zu dem Abt. Neugierig spähten sie ihm über die Schulter auf die Stelle, die er ihnen wies. In dem Meeresarm lagen mehrere Schiffe vor Anker, darunter zwei große seegehende. Brocc zeigte auf eins der größeren Schiffe, das nahe der Ausfahrt aus der geschützten Bucht ankerte.
»Du bist ein Krieger, Cass.« Broccs Baßstimme klang düster. »Kannst du das Schiff erkennen? Du siehst, welches ich meine? Nicht das fränkische Handelsschiff, sondern das andere.«
Cass kniff die Augen zusammen.
»Es führt die Flagge Fianamails, des Königs von Laigin«, erwiderte er etwas überrascht. »Es ist ein Kriegsschiff aus Laigin.«
»Genau«, seufzte Brocc, wandte sich um und winkte sie zu ihren Stühlen zurück, während er den seinen wieder einnahm. »Es tauchte vor einer Woche hier auf. Sie haben ein Kriegsschiff hergeschickt, um mich daran zu erinnern, daß Laigin mir für den Tod Dacans die Verantwortung zuschreibt. Es liegt dort in der Bucht, tagein, tagaus. Um die Sache klarzustellen, kam der Kapitän gleich nach der Ankunft zu mir und unterrichtete mich von den Absichten des Königs von Laigin. Seitdem ist keiner mehr von dem Schiff zur Abtei gekommen. Es liegt einfach in der Einfahrt zur Bucht und wartet - wie eine Katze auf die Maus.
Wenn sie mir damit die Ruhe nehmen wollten, dann ist ihnen das gelungen. Zweifellos haben sie vor, dort zu warten, bis die Ratsversammlung des Großkönigs ihre Entscheidung trifft.«
Cass wurde rot vor Zorn.
»Das ist eine Beleidigung der Justiz«, sagte er scharf. »Das ist Einschüchterung. Das ist körperliche Bedrohung.«
»Wie ich gesagt habe, ist es eine Erinnerung daran, daß Laigin Auge um Auge, Zahn um Zahn verlangt. Was sagt die Heilige Schrift? Wenn ein Mann einem anderen ein Auge herausreißt, soll man auch ihm ein Auge ausreißen?«
»Das ist das Gesetz der Israeliten«, erklärte Fidelma. »Es ist nicht das Gesetz der fünf Königreiche.«