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»Sehr richtig, Kusine. Doch wenn wir glauben sollen, daß die Israeliten das erwählte Volk Gottes sind, dann sollten wir ihrem Gesetz ebenso folgen wie ihrer Religion.«

»Theologische Debatten können wir später führen«, fuhr Cass dazwischen. »Warum machen sie dich verantwortlich, Brocc? Hast du den Ehrwürdigen Da-can umgebracht?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann hat Laigin keinen Grund, dir zu drohen.« Für Cass war der Fall ganz einfach.

Fidelma wandte sich vorwurfsvoll an ihn.

»Laigin hält sich an das Gesetz. Brocc ist hier der Abt. Er ist das Oberhaupt dieser Abtei und damit nach dem Gesetz verantwortlich für alles, was seinen Gästen zustößt. Wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Geldstrafen und Entschädigungen zu zahlen, dann muß das seine Familie tun, so lautet das Gesetz. Weil er den Eoganachta, der Herrscherfamilie von Muman, angehört, wird nun ganz Muman für die Tat haftbar gemacht. Kannst du dieser Logik folgen, Cass?«

»Aber das ist ungerecht«, protestierte Cass.

»Es ist das Gesetz«, beharrte Fidelma. »Das solltest du wissen.«

»Und oft sind Gesetz und Gerechtigkeit zwei Dinge, die nicht übereinstimmen«, bemerkte Brocc bitter. »Aber du hast richtig dargestellt, wie Laigin den Fall sieht. Es bleibt nicht viel Zeit, um eine Verteidigung vorzubereiten, bis die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara zusammentritt.«

»Dann wäre es wohl das beste«, Fidelma versuchte ihr Gähnen zu unterdrücken, »wenn du mir die wesentlichen Tatsachen mitteilst, damit ich mir überlegen kann, auf welche Art ich meine Nachforschungen betreibe.«

Abt Brocc fiel ihre Erschöpfung nicht auf. Er breitete die Arme aus zu einer beredten Geste der Verlegenheit.

»Dazu kann ich wenig sagen, Kusine. Die Tatsachen sind folgende: Der Ehrwürdige Dacan kam mit Genehmigung von König Cathal in die Abtei, um unsere Sammlung alter Bücher zu studieren. Wir haben eine große Anzahl von >Stäben der Dichter<, in denen im Ogham-Alphabet alte Geschichten und Sagen eingeritzt sind. Wir sind stolz auf unsere Sammlung. Es ist die beste in den fünf Königreichen. Nicht einmal in Tara findet man eine solche Sammlung.«

Fidelma teilte Broccs Stolz. Sie hatte das alte Alphabet gelernt, das der Legende nach den Iren von Ogma, dem heidnischen Gott der Literatur, geschenkt worden war. Es bestand aus einer unterschiedlichen Anzahl von Strichen und Kerben zu einer Grundlinie hin oder darüber hinweg. Dieses alte Alphabet wurde nun mehr und mehr von dem lateinischen verdrängt, das man mit dem christlichen Glauben übernommen hatte.

Brocc fuhr fort: »Wir sind besonders stolz auf unsere Tech Screptra, unsere große Bibliothek. Unsere Gelehrten haben nachgewiesen, daß das Königreich Muman als erstes die Kunst des Ogham den Menschen der fünf Königreiche brachte. Wie du vielleicht weißt, wurde diese Abtei vor fast hundert Jahren vom heiligen Fachtna Mac Mongaig, einem Schüler Itas, gegründet. Er schuf sie nicht nur als ein Haus zur Anbetung Gottes, sondern auch als einen Aufbewahrungsort wissenschaftlicher Bücher, als einen Ort des Lernens für Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Und sie kamen und kommen immer noch, ein endloser Zug von Pilgern auf der Suche nach Wissen. Ros Ailithir ist berühmt in allen fünf Königreichen und noch darüber hinaus.«

Fidelma konnte eine leichte Belustigung über die plötzliche Begeisterung Broccs für seine Abtei nicht unterdrücken. Auch bei den Frommen, die eigentlich ein Beispiel an Demut sein sollten, war oft Hochmut zu finden.

»Und deshalb heißt die Abtei auch das Vorgebirge der Pilger«, sagte Cass leise, als wolle er zeigen, daß er auch etwas beisteuern konnte.

Der Abt sah ihn kühl an und neigte leicht das Haupt.

»Ganz recht, Krieger. Ros Ailithir - das Vorgebirge der Pilger. Und zwar nicht nur der Pilger des Glaubens, sondern auch der Pilger der Wahrheit und des Wissens.«

Fidelma machte eine ungeduldige Geste.

»Also der Ehrwürdige Dacan kam mit der Erlaubnis König Cathals her, um zu studieren. Soviel wissen wir.«

»Und um zu lehren, als Entgelt für den Zugang zu unserer Bibliothek«, ergänzte Brocc. »Sein größtes Interesse bestand darin, die Texte auf den >Stäben der Dichter< zu entziffern. An den meisten Tagen arbeitete er in unserer Tech Screptra.«

»Wie lange hielt er sich hier als Gast auf?«

»Ungefähr zwei Monate.«

»Und wie ist er gestorben?«

Brocc lehnte sich zurück und legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch.

»Es passierte vor zwei Wochen. Es war kurz vor dem Läuten der Glocke zur Terz.« Er wandte sich an Cass und erläuterte pedantisch: »Die Arbeit eines Abts wird zwischen der Terz am Morgen und der Vesper am Abend getan.«

»Die Terz ist die dritte Stunde des kanonischen Tages«, erklärte Fidelma, als sie sah, daß Cass bei den Worten des Abts verständnislos die Stirn runzelte.

»Es ist die Stunde, in der wir mit unseren Studien beginnen und einige der Brüder zur Arbeit hinausgehen, denn wir haben Ackerland zu bearbeiten und Tiere zu füttern und Fische aus dem Meer zu holen.«

»Weiter«, forderte ihn Fidelma auf, die sich über die Länge seines Berichts ärgerte. Ihre Augenlider brannten, und sie sehnte sich nach etwas Ruhe, nach ein paar Stunden Schlaf.

»Wie gesagt, es war kurz bevor die Glocke zur Terz rief, als Bruder Conghus, mein aistreoir, das ist der Torhüter der Abtei, der auch die Glocken läutet, in mein Zimmer stürzte. Natürlich fragte ich ihn, was ihn veranlaßte, sich derart zu vergessen ...«

»Und dann sagte er dir, daß Dacan tot war?« unterbrach ihn Fidelma ungeduldig.

Brocc stutzte; er war es nicht gewohnt, daß ihm jemand ins Wort fiel.

»Er hatte Dacans cubiculum im Gästehaus aufgesucht. Man hatte Dacan beim jentaculum vermißt.« Er hielt inne und wandte sich herablassend an Cass. »Das ist die Mahlzeit, mit der wir nach dem Aufstehen das Fasten brechen.«

Diesmal machte sich Fidelma nicht die Mühe, ihr Gähnen zu unterdrücken. Der Abt sah leicht gekränkt aus und fuhr eilig fort.

»Bruder Conghus ging ins Gästehaus und fand dort die Leiche des Ehrwürdigen Dacan auf seiner Bettstelle.

Man hatte ihn an Händen und Füßen gebunden und ihm dann mehrere Stiche versetzt. Der Arzt wurde geholt und untersuchte ihn. Die Stichwunden gingen alle bis zum Herzen, und jede von ihnen hätte tödlich sein können. Mein fer-tighis, der Verwalter der Abtei, wurde mit den Nachforschungen beauftragt. Er befragte alle, die sich in der Abtei aufhielten, aber niemand hatte etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Es kam nichts ans Licht, was erklärt hätte, wer Dacan ermordet hatte und warum. Weil der Ehrwürdige Da-can ein so berühmter Gast war, sandte ich sogleich eine Nachricht an König Cathal in Cashel.«

»Auch nach Laigin?«

Brocc schüttelte den Kopf.

»Zu der Zeit hielt sich ein Kaufmann aus Laigin in der Abtei auf. Der Seeweg entlang der Küste nach Laigin wird viel befahren. Zweifellos brachte dieser Kaufmann die Nachricht von Dacans Tod nach Fear-na und zu Dacans Bruder, dem Abt Noe.«

Fidelma beugte sich interessiert vor.

»Wie hieß der Kaufmann?«

»Ich glaube, Assid. Mein fer-tighis, Bruder Ru-mann, weiß das sicher.«

»Wann fuhr dieser Kaufmann nach Laigin ab?«

»Ich glaube, es war am selben Tag, an dem die Leiche Dacans entdeckt wurde. Sicher bin ich mir nicht. Bruder Rumann weiß solche Einzelheiten.«

»Aber Bruder Rumann fand nichts, was den Mord erklärte?« unterbrach Cass.

Während der Abt erneut nickte, fragte Fidelma:

»Wann hast du zum erstenmal gehört, daß Laigin dich für den Tod haftbar macht und Entschädigung vom König von Muman verlangt?«