»Vielleicht gab es keines? Vielleicht wurde er von einem Wahnsinnigen umgebracht und ...«
Fidelma tadelte Cass sanft.
»Wahnsinn ist selbst schon ein Motiv.«
Cass schüttelte den Kopf und betrachtete traurig die leere Suppenschüssel.
»Das hat geschmeckt«, bemerkte er mit Bedauern darüber, daß nicht mehr da war. »War wohl Hafermehl, Milch und Porree. War das so gut, oder hat es so geschmeckt, weil ich solchen Heißhunger hatte?«
Fidelma lächelte belustigt.
»Diese Suppe soll ein Lieblingsgericht des heiligen Colmcille gewesen sein«, bemerkte sie. »Sie besteht wirklich aus den Zutaten, die du genannt hast, aber ich glaube, alles schmeckt großartig, wenn man lange genug nichts gegessen hat.«
Cass schnitt sich eine Scheibe Käse ab, und Fidelma deutete an, daß sie auch gern eine hätte. Er legte die Scheibe auf den Holzteller und schnitt sich eine andere ab. Dann brach er sich einen Kanten Brot ab. Er kaute nachdenklich daran, während er jedem einen Becher Wein einschenkte.
»Im Ernst, Schwester, wie kannst du hoffen, dieses Rätsel zu lösen? Der Mord geschah vor mehr als zwei Wochen, und ich glaube nicht, daß sich der Verbrecher noch in der Nähe der Abtei aufhält. Und selbst wenn. Es gibt anscheinend keine Zeugen, niemand hat etwas gesehen, keine Spur führt zu dem Täter.«
Fidelma trank ruhig einen Schluck Wein.
»Also, Cass, was würdest du denn an meiner Stelle tun?«
Cass hörte auf zu kauen und blinzelte. Er dachte über die Frage nach.
»So viele Einzelheiten herausfinden wie möglich, nehme ich an, und sie dann nach Cashel berichten.«
»Na«, sagte Fidelma mit gespieltem Ernst, »wenigstens darin stimmen wir überein. Kannst du mir noch weiteren Rat geben, Cass?«
Der junge Krieger errötete.
Fidelma war eine dalaigh. Das wußte er. Sicherlich verspottete sie ihn, weil er sich erdreistet hatte, ihr zu sagen, wie sie ihre Aufgabe lösen sollte.
»Ich wollte damit nicht behaupten ...«, setzte er an.
Sie entwaffnete ihn mit einem Lächeln.
»Mach dir keine Sorgen, Cass. Wenn ich angenommen hätte, du wolltest mich kränken, hätte ich mich schon zu wehren gewußt. Vielleicht ist es gut, daß du mir nicht schmeichelst. Obwohl ich meine Stärken ebenso kenne wie meine Schwächen, denn nur Dummköpfe beanspruchen den Respekt für sich, der ihrem Amt gebührt.«
Cass blickte unsicher in Fidelmas grüne Augen und schluckte.
»Einigen wir uns doch darauf«, fuhr sie fort, »daß ich dir nicht sage, wie du im Kampf dein Schwert führen sollst, wenn du mir keine Ratschläge gibst, wie ich die Kunst ausüben soll, für die ich ausgebildet bin.«
Der junge Mann zog ein etwas mürrisches Gesicht.
»Ich wollte nur sagen, daß mir die Aufgabe unlösbar erscheint.«
»Nach meiner Erfahrung sehen alle Aufgaben zuerst so aus. Aber wenn du ein Problem lösen willst, mußt du anfangen und darfst nicht auf der Stelle herumtreten. Verändert sich dein Ausgangspunkt, dann ändert sich auch deine Sicht auf das Problem.«
»Und womit willst du anfangen?« fragte er rasch im Bemühen, die Mißstimmung beizulegen, die noch in Fidelmas scherzhaftem Ton mitschwang.
»Wir fangen damit an, daß wir Bruder Conghus befragen, der die Leiche gefunden hat, dann den Arzt, der sie untersuchte, und schließlich unseren zappeligen Verwalter, Bruder Rumann, der die erste Untersuchung leitete. Einer von ihnen oder jeder offenbart uns vielleicht ein Stückchen des Geheimnisses. Wenn wir alle Stücke, auch die kleinsten, gesammelt haben, dann prüfen wir sie sorgfältig. Vielleicht können wir daraus ein Bild zusammensetzen.«
»Klingt einfach.«
»Ist es aber nicht«, widersprach sie sofort. »Denke daran, daß jede Kleinigkeit hilft. Behalte sie im Gedächtnis, bis du sie verwenden kannst. Doch jetzt, meine ich, werde ich erst einmal schlafen, bevor .«
Als sie sich erhob, zerriß ein durchdringender Schreckensschrei die Stille des Gästehauses.
Kapitel 5
Als der schrille Schrei zum zweitenmal ertönte, war Fidelma bereits auf den Gang hinausgestürmt, den sie nun mit einer Schnelligkeit entlanglief, die den jungen Krieger überraschte, der ihr dicht auf den Fersen folgte. Der Laut war aus dem Erdgeschoß gekommen, er klang wie das Schreien einer Frau in den Wehen.
Am Fuß der Treppe stieß Fidelma beinahe mit Bruder Rumann zusammen. Auch er eilte dorthin, wo der Schrei herkam, und wortlos liefen Fidelma und Cass dem korpulenten Verwalter der Abtei nach, den unteren Gang entlang an vielen Türen vorbei.
Plötzlich blieben die drei stehen, verblüfft von dem leisen beruhigenden Summen, das durch die Stille drang.
Bruder Rumann stieß eine Tür auf. Fidelma und Cass spähten über seine Schulter.
Drinnen saß Schwester Eisten auf einem Bett und hielt einen der schwarzhaarigen Jungen aus Rae na Scrine in den Armen. Es war Cosrach, der jüngere der beiden Knaben. Schwester Eisten summte ihm ein Wiegenlied vor. Der Knabe lag leise schluchzend in ihren Armen. Schwester Eisten schien die drei an der Tür nicht wahrzunehmen.
Es war der ältere Bruder, der andere schwarzhaarige Junge, der hinter Schwester Eisten stand und nun aufsah und ihnen sein finsteres Gesicht zuwandte. Er drängte die drei unmerklich zur Tür hinaus, folgte ihnen und schloß die Tür hinter sich. Trotzig reckte er das Kinn vor, offenbar verärgert über ihr Eindringen.
»Wir hörten einen Schrei, Junge«, fuhr ihn Bruder Rumann an.
»Es war mein Bruder, der geschrien hat«, antwortete der Junge mürrisch. »Er hatte einen Alptraum, weiter nichts. Jetzt ist alles in Ordnung. Schwester Eisten hat ihn gehört und ihn wieder beruhigt.«
Fidelma beugte sich vor, lächelte ihn an und versuchte sich an seinen Namen zu erinnern.
»Na, ein Segen ... du heißt Cetach, nicht wahr?«
»Ja.« Sein Ton war knurrig, beinahe abweisend.
»Sehr gut, Cetach. Dein Bruder und du, ihr habt Schlimmes erlebt. Aber jetzt ist es vorbei. Ihr braucht euch keine Sorgen mehr zu machen.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte der Junge verächtlich. »Aber mein Bruder ist kleiner als ich. Er kann nichts für seine Träume.«
Fidelma hatte den Eindruck, daß sie zu einem Mann spräche und nicht zu einem Jungen. Cetach wirkte sehr reif für sein Alter.
»Natürlich nicht«, gab sie ihm recht. »Du mußt deinem Bruder klarmachen, daß ihr nun unter Freunden seid, die für euch sorgen.«
Der Junge wartete einen Augenblick und sagte dann: »Darf ich jetzt zu meinem Bruder zurück?«
Die beiden Jungen würden Zeit brauchen, um über ihre Erlebnisse hinwegzukommen, dachte Fidelma. Sie lächelte wieder, diesmal etwas unaufrichtig, und nickte zustimmend.
Als sich die Zimmertür hinter dem Jungen schloß, schnalzte Bruder Rumann besorgt mit der Zunge, ehe er den Korridor entlang zurückeilte.
Fidelma ging langsam zur Treppe zurück. Cass paßte seinen Gang ihren kürzeren Schritten an.
»Arme Kinder«, bemerkte Cass. »Ich hoffe, Salbach findet diesen Intat bald und bestraft ihn und seine Leute.«
Fidelma nickte zerstreut.
»Wenigstens scheint die Not des Jungen bewirkt zu haben, daß Schwester Eisten wieder auf etwas reagiert. Um sie habe ich mir mehr Sorgen gemacht als um die Kinder. In ihrem Alter hat man noch die Kraft, über so etwas hinwegzukommen. Aber Eisten nahm den Tod des Babys heute morgen sehr schwer.«
»Es gab nichts, was sie für den Säugling hätte tun können«, erwiderte Cass. »Selbst wenn wir nicht gezwungen gewesen wären, die Nacht im Freien zu verbringen, wäre das Kind sicher gestorben. Ich habe gesehen, daß es die Gelbe Pest hatte.«
»Deus vult«, antwortete Fidelma automatisch mit einem Fatalismus, der ihr eigentlich nicht entsprach. Es ist Gottes Wille.
Der Ruf der Glocke zur Vesper, der sechsten kanonischen Stunde, ließ Fidelma widerwillig aus ihrem tiefen Schlaf erwachen. Sie lauschte dem Geläut und wußte, daß es zu spät war, sich den Brüdern und Schwestern in der Abteikirche anzuschließen, also zwang sie sich, aufzustehen und das übliche Gebet zu sprechen. Meist wurden die Rituale der Kirche in den fünf Königreichen noch auf Griechisch vollzogen, der Sprache des Glaubens, in der die Heiligen Schrift abgefaßt war. Viele benutzten jetzt aber schon das Lateinische, die Sprache Roms. Latein löste Griechisch als die Sprache der Kirche ab. Fidelma bereitete es keine Mühe, von einer Sprache in die andere zu wechseln, denn sie konnte ebensogut Latein wie Griechisch und ein wenig Hebräisch. Außerdem beherrschte sie neben ihrer Muttersprache noch die Sprachen der Briten und der Sachsen.