Nachdem sie sich in dem Zimmer, in dem sie ihre erste Mahlzeit eingenommen hatten, eingerichtet hatten, schickte Fidelma Necht los, um den aistreoir Bruder Conghus zu holen.
»Wir fangen vorn an«, erklärte sie Cass. »Conghus war der erste, der die Leiche des Ehrwürdigen Dacan entdeckte.«
Cass war sich nicht sicher, welche Rolle er jetzt zu spielen hatte. Er besaß keine Ausbildung im Rechtswesen und war nie dabeigewesen, wenn ein dalaigh ein Verbrechen untersuchte. Also setzte er sich im Hintergrund in eine Ecke und überließ Fidelma den Platz am Tisch, auf dem eine Öllampe brannte.
Kurz darauf erschien Schwester Necht etwas atemlos mit dem stämmigen Torhüter, Bruder Conghus.
»Ich habe ihn geholt, Schwester«, sagte das Mädchen mit tiefer, fast männlich klingender Stimme, die ihr normaler Tonfall zu sein schien. »Wie du angeordnet hast.«
Fidelma bemühte sich, ihr Lächeln zu verbergen, und winkte die Novizin zu einem Platz neben Cass.
»Du kannst dort warten, Schwester Necht. Du sprichst nicht, wenn du nicht von mir angesprochen wirst, und verrätst keinem etwas von dem, was du in diesem Zimmer hörst. Dafür brauche ich deinen heiligen Eid, wenn du mir weiter helfen willst.«
Die Novizin schwor sofort den Eid und setzte sich.
Dann wandte sich Fidelma Bruder Conghus zu, der wartend an der Tür stand.
»Komm herein, schließ die Tür und setz dich, Bruder«, sagte sie mit Bestimmtheit.
Der Torhüter tat, wie ihm geheißen.
»Womit kann ich helfen, Schwester?« erkundigte er sich.
»Ich muß dir ein paar Fragen stellen. Als erstes möchte ich wissen, ob dir bekannt ist, welchem Zweck mein Besuch hier dient?«
Conghus zuckte die Achseln: »Wer weiß das nicht?«
»Gut. Kommen wir zurück auf den Tag, an dem der Ehrwürdige Dacan starb. Wie ich hörte, warst du der erste, der die Leiche entdeckte?«
Die Erinnerung verursachte ihm offenbar Unbehagen.
»Das stimmt.«
»Beschreibe bitte die näheren Umstände.«
»Dacan war ein Mensch mit festen Gewohnheiten. In den zwei Monaten, die er hier wohnte, hatte ich bemerkt, daß er sich den Tag streng einteilte. Man konnte fast die Uhr nach ihm stellen.«
Er hielt inne und dachte nach.
»Zu meinen Pflichten als Torhüter gehört auch das Läuten der Glocken zu den festgelegten Stunden und zu den Gottesdiensten. Die Morgenglocke läutet den Tag ein, dann folgt das jentaculum, die erste Mahlzeit. Weil wir eine große Gemeinschaft sind und unser Speisesaal nicht alle faßt, essen wir in drei Durchgängen. Dacan aß immer im mittleren Durchgang, wie ich auch. So kann ich meiner Pflicht zum Läuten nachkommen. Nach dem dritten Durchgang des jentaculum läute ich zur Terz, mit der die Arbeit beginnt.«
»Ich verstehe«, sagte Fidelma, als der Torhüter sie fragend ansah, ob sie ihm folgen könne.
»Nun, an diesem bestimmten Morgen vor zwei Wochen, am Luan-Tag, erschien Dacan nicht an seinem Platz zum Frühmahl. Ich fragte nach, denn es war ungewöhnlich, daß er eine Mahlzeit versäumte. Nämlich ...«
»Du hast schon erklärt, wie streng er seine Gewohnheiten einhielt«, unterbrach ihn Fidelma rasch.
Conghus blinzelte und nickte.
»Ach ja. Also ich erfuhr, daß er auch nicht im ersten Durchgang gewesen war. Nachdem ich gegessen hatte, trieb mich die Neugier, im Gästehaus nach ihm zu sehen.«
»Wo lag sein Zimmer?«
»Im Erdgeschoß.« Conghus wollte sich erheben. »Ich kann es dir gleich zeigen .«
Fidelma winkte ihn auf seinen Platz zurück.
»Etwas später. Machen wir weiter. Du begabst dich also auf die Suche nach Dacan?«
»Ja. Viel mehr ist nicht zu sagen. Ich ging zu seinem Zimmer und rief nach ihm. Ich erhielt keine Antwort. Also öffnete ich die Tür .«
»Wenn keine Antwort kam, mußtest du doch annehmen, daß der Ehrwürdige Dacan nicht in seinem Zimmer war?« unterbrach ihn Fidelma. »Was veran-laßte dich, die Tür zu öffnen?«
Conghus runzelte die Stirn.
»Na . na, ich sah unter der Tür ein Licht flackern. Der Gang ist dunkel, deshalb fällt einem jeder Lichtschein auf. Ich dachte, wenn Dacan eine Kerze hatte brennen lassen, dann sollte ich sie löschen. Sparsamkeit gehört auch zur Regel des heiligen Fachtna«, fügte er salbungsvoll hinzu.
»Ich verstehe. Du sahst also ein Licht und dann .?«
»Ich ging hinein.«
»Woher kam das Licht?«
»Von einer Öllampe, die noch brannte.«
»Weiter«, drängte Fidelma, als Conghus zögerte.
»Dacan lag tot auf seinem Bett. Das ist alles.«
Fidelma unterdrückte einen ärgerlichen Seufzer.
»Stell dir vor, Bruder Conghus«, sagte sie geduldig, »du stehst noch einmal auf der Türschwelle. Beschreibe mir, was du siehst.«
Conghus schien nachzudenken.
»Das Zimmer wurde von der Öllampe erhellt, die auf einem kleinen Tisch neben dem Bett stand. Dacan war vollständig angekleidet. Er lag auf dem Rücken. Das erste, was mir auffiel, war, daß er an Händen und Füßen gefesselt war .«
»Mit Schnüren?«
Conghus schüttelte den Kopf.
»Mit Tuchstreifen, blauroten Streifen von einem Leinentuch. Einen solchen Streifen hatte er auch im Mund. Der diente wohl als Knebel. Dann sah ich Blutflecke auf seiner ganzen Brust. Da begriff ich, daß er getötet worden war.«
»Nun gut. Jetzt erzähle mir, ob es irgendwo ein Messer gab - das Messer, mit dem ihm die Wunden beigebracht wurden?«
»Ich habe keins gesehen.«
»Wurde später eins gefunden?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Wie sah Dacans Gesicht aus?«
»Wie bitte?« fragte Conghus verblüfft.
»War sein Gesicht ruhig und gelassen? Standen die Augen offen oder waren sie geschlossen? Wie sah er aus?«
»Ruhig, würde ich sagen. Weder Furcht noch Schmerz zeichneten sich in seinen Zügen ab, wenn du das meinst.«
»Genau das meine ich«, antwortete Fidelma. »Dir war also klar, daß Dacan getötet worden war. Fiel dir sonst noch etwas in dem Zimmer auf? War es durchwühlt worden? War es wie immer? Wenn Da-can so streng in seinen Gewohnheiten war, deutet das darauf hin, daß er auf peinliche Sauberkeit achtete.«
»Das Zimmer war unverändert, so weit ich mich erinnern kann. Du hast natürlich recht, Dacans Ordnungsliebe war bekannt. Doch darüber kann dir Schwester Necht mehr erzählen.«
Fidelma vernahm ein Rascheln, drehte sich um und bedeutete der Novizin zu schweigen.
»So.« Fidelma sah wieder Conghus an. »Langsam gewinnen wir ein Bild. Also weiter. Als dir klar wurde, daß Dacan getötet worden war, was tatest du da?«
»Ich ging sofort zum Abt. Ich berichtete ihm, was ich entdeckt hatte. Er ließ Bruder Tola, unseren Unterarzt, holen, der die Leiche untersuchte und bestätigte, was ich schon wußte. Dann übergab der Abt die Angelegenheit Bruder Rumann. Als Verwalter der Abtei war es seine Aufgabe, die näheren Umstände des Todes herauszufinden.«
»Eine Frage: Du sagtest, der Abt ließ Bruder Tola, den Unterarzt, holen? Warum ließ er nicht den leitenden Arzt kommen? Schließlich war der Ehrwürdige Dacan ein Mann von hohem Rang.«
»Das stimmt. Aber unser leitender Arzt, Bruder Midach, war zu der Zeit nicht in der Abtei.«
»Du sagtest, Dacan habe zwei Monate hier gewohnt«, bemerkte Fidelma. »Wie gut kanntest du ihn?«
Bruder Conghus zog die Brauen empor.