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Nun ließ sich Fidelma zur Überraschung der Zusehenden auf die Knie nieder und untersuchte, die Öllampe in der Hand, sorgsam den Fußboden.

Er war von einer feinen Staubschicht überzogen. Bruder Conghus hatte anscheinend recht, wenn er sagte, daß seit dem Mord niemand mehr das Zimmer betreten hatte. Plötzlich langte Fidelma unter das Bett und holte etwas hervor, einen achtzehn Zoll langen Espenholzstab mit Einkerbungen. Er war so unauffällig, daß man ihn leicht übersehen konnte.

Sie hörte, wie jemand erschrocken tief Luft holte, drehte sich um und sah, wie Schwester Necht sie anstarrte.

»Kennst du das?« fragte sie die junge Novizin schnell und hielt den Stab ins Licht.

Necht schüttelte sofort den Kopf.

»Es war ... nein, ich dachte, es wäre etwas anderes. Ich hab mich geirrt. Ich hab ihn noch nie gesehen.«

Fidelma hielt noch ihren Fund in der Hand, als ihr Blick auf den kleinen Tisch neben dem Bett fiel. Mit der freien Hand hob sie die darauf stehende Öllampe hoch. Sie war schwer und offensichtlich gut gefüllt.

Sie ging zur Tür, wo die anderen standen.

Noch einmal schaute sie ins Zimmer, langsam und gründlich ließ sie ihre Blicke durch den Raum wandern.

Es war eine dunkle Zelle. Es gab nur ein kleines Fenster, hoch in der Mauer über dem Bett, durch das offenbar sehr wenig Licht fiel. Das Fenster war nicht nur klein, sondern ging auch nach Norden. Das Licht, überlegte sie, müßte kalt und grau sein. Wollte man in diesem Zimmer arbeiten, mußte es ständig beleuchtet werden. Sie wandte sich um und untersuchte die Tür. Hier gab es nichts Ungewöhnliches, kein Schloß und keinen Riegel, nur die übliche Klinke.

»Brauchst du mich noch für irgend etwas, Schwester?« fragte Bruder Conghus. »Es wird Zeit für mich, zur Completa zu läuten.«

Die Completa war die siebente und letzte Gottesdienststunde des Tages.

Fidelma riß ihren Blick widerstrebend vom Zimmer los und schaute Conghus an.

»Nur noch eins, Conghus. Die Streifen Leinentuch, mit denen Dacan gefesselt war, wie du sagst - was ist aus denen geworden?«

Conghus zuckte die Achseln.

»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, der Arzt hat sie entfernt. Ist das alles?«

»Du kannst jetzt gehen«, stimmte sie zu. »Doch vielleicht will ich später noch einmal mit dir sprechen.«

Conghus eilte davon.

Fidelma schaute die Novizin an.

»Nun, Schwester Necht, kannst du mir den Arzt suchen, hieß er nicht Bruder Tola?«

»Den Unterarzt? Natürlich«, antwortete die Novizin und wollte sich schon auf den Weg machen.

»Warte!« Fidelma schmunzelte über ihren Eifer. »Wenn du ihn gefunden hast, bring ihn sofort hierher zu mir. Ich warte auf ihn.«

Die junge Schwester flitzte rasch davon.

Fidelma untersuchte die Einkerbungen in dem Espenholzstab.

»Was bedeuten sie?« fragte Cass neugierig. »Kannst du die alte Schrift lesen?«

»Ja. Verstehst du Ogham?«

Cass schüttelte bedauernd den Kopf.

»Das alte Alphabet habe ich nie gelernt, Schwester.«

»Dies scheint eine Art Testament zu sein. Aber es ergibt nicht viel Sinn. >Möge mein süßer Vetter für meine Söhne auf dem Felsen Michaels sorgen, wie es mein ehrenwerter Vetter bestimmen wird.< Merkwürdig.«

»Und was soll das heißen?« fragte Cass.

»Erinnerst du dich, was ich über das Sammeln von Einzelheiten sagte? Es ist, als würdest du Zutaten für ein Gericht sammeln. Hier findest du etwas und dort etwas, und wenn du alles beisammen hast, beginnst du zu kochen. Leider haben wir noch nicht alle Zutaten. Aber ein bißchen mehr wissen wir schon, zum Beispiel, daß es ein sorgfältig geplanter Mord war.«

Cass starrte sie an.

»Sorgfältig geplant? Die Heftigkeit des Angriffs deutet eher darauf hin, daß der Mörder in wilder Wut handelte, in einem plötzlichen Zornesausbruch und nicht vorsätzlich.«

»Vielleicht. Aber der alte Mann wurde nicht in einem plötzlichen Zornesausbruch an Händen und Füßen gebunden. Das hier sieht nach Vorsatz aus. Doch was versetzte den Mörder in solche Wut? Ein Fremder, ob Mann oder Frau, der wahllos zustach, konnte kaum eine solche Wut aufstauen.«

Sie schwieg plötzlich, als sei ihr etwas eingefallen.

»Was ist?« drängte Cass, als er merkte, daß sie mit den Gedanken woanders war. Sie blickte stirnrunzelnd in das Zimmer. Schließlich ging sie wieder hinein und stellte die Öllampe auf den Schreibtisch, so daß sie den Raum erleuchtete.

»Ich wollte, ich wüßte es«, gestand sie zögernd. »Ich spüre, daß an diesem Zimmer irgend etwas nicht in Ordnung ist und daß mir das auffallen müßte.«

Kapitel 6

Bruder Tola, der Unterarzt der Abtei, hatte silbergraues Haar und weiche, angenehme Züge, und er lächelte beständig, als mache er sich über das Leben lustig. Fidelma erinnerte sich, daß die meisten Ärzte und Ärztinnen, denen sie begegnet war, die Tragödien des Alltags mit ironischem Humor betrachteten. Vielleicht, schloß sie, wehrten sie sich damit gegen ihre fortwährende Berührung mit dem Tode, vielleicht hatte sie gerade die Erfahrung des Todes und der menschlichen Tragödie gelehrt, das Leben so intensiv wie möglich zu genießen, solange man noch am Leben und bei leidlicher Gesundheit war.

»Es sind nur wenige Fragen, die ich dir stellen möchte, Tola«, begann Fidelma, nachdem sie ein paar höfliche Worte gewechselt hatten. Sie standen noch vor der Tür des Zimmers, das Dacan bewohnt hatte.

»Ich tue, was ich kann, Schwester«, sagte Tola lächelnd. »Ich fürchte, es wird nicht viel sein, aber stell nur deine Fragen.«

»Ich habe gehört, daß kurz nachdem Bruder Conghus die Leiche des Ehrwürdigen Dacan gefunden hatte, Abt Brocc dich holen ließ, damit du sie untersuchst?«

»Das stimmt.«

»Du bist der Unterarzt der Abtei?«

»Richtig. Bruder Midach ist unser leitender Arzt.«

»Entschuldige, aber warum ließ der Abt dich holen und nicht Bruder Midach?«

Fidelma hatte die Antwort schon gehört, wollte aber sichergehen.

»Bruder Midach war nicht in der Abtei. Er hatte am Abend zuvor eine Reise angetreten und kehrte erst sechs Tage später zurück. Wir Ärzte werden oft in den Nachbardörfern gebraucht.«

»Nun gut. Kannst du mir genau beschreiben, was vorgefallen ist?«

»Natürlich. Es war kurz nach der Terz, und Bruder Martan, unser Apotheker, hatte gerade bemerkt, daß die Glocke nicht zur Stunde geläutet hatte ...«

Das interessierte Fidelma.

»Die Glocke hatte nicht geläutet? Woher wußte der Apotheker dann, daß die Terz bereits vorbei war?«

Tola grinste.

»Da gibt’s kein Geheimnis. Martan ist nicht nur Apotheker, sondern interessiert sich auch für Zeitmessung. Wir haben hier bei uns eine Wasseruhr; den Entwurf dafür hat einer unserer Brüder vor vielen Jahren von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land mitgebracht. Eine Wasseruhr ist .«

Fidelma hob die Hand und unterbrach ihn.

»Ich weiß, was das ist. Also sah der Apotheker auf der Wasseruhr nach .?«

»Nein. Martan vergleicht häufig den Stand der Wasseruhr mit einem noch älteren Meßinstrument in seiner Apotheke. Es ist altmodisch, aber es funktioniert. Es ist ein Mechanismus, bei dem Sand von einem Teil in einen anderen rinnt, und der Sand ist so bemessen, daß er in einer bestimmten Zeit durchläuft.«

»Ein Stundenglas?« fragte Cass. »So etwas habe ich schon gesehen.«

»Es funktioniert auf derselben Basis«, stimmte Bruder Tola beiläufig zu. »Martans Meßinstrument wurde vor fünfzig Jahren von einem Handwerker dieser Abtei gebaut. Es ist größer als ein Stundenglas, und der Sand ist erst nach einem cadar vollständig von einem Behälter in den anderen gerieselt.«

Fidelma hob erstaunt die Brauen. Ein cadar war ein Viertel eines Tages.