»Hast du mich deshalb kommen lassen?« fragte sie. »Weil unser Vetter stirbt?«
Colgü schüttelte rasch den Kopf.
»König Cathal hat mir befohlen, dich holen zu lassen, noch bevor ihn das Fieber der Pest ergriff. Jetzt kann er dir keine Anweisungen mehr geben, das fällt nun mir zu.«
Er berührte ihren Ellbogen. »Aber erst mußt du dich von der Reise ausruhen. Danach ist immer noch Zeit dafür. Komm, ich habe dir dein altes Zimmer herrichten lassen.«
Fidelma versuchte einen Seufzer der Ungeduld zu unterdrücken.
»Du kennst mich gut genug, Bruder. Du weißt, daß ich nicht ruhen kann, solange es ein Geheimnis zu enträtseln gibt. Du stachelst meine Phantasie nur noch an. Komm, erklär mir, worum es sich handelt, dann kann ich mich ausruhen.«
Colgü setzte zum Sprechen an, als man zornig erhobene Stimmen vernahm. Man hörte ein Handgemenge, und Colgü war aufgesprungen, um zu sehen, was da vor sich ging, als die Tür aufflog und Forbas-sach von Fearna ihm entgegentrat. Er war rot im Gesicht und atmete schwer vor Anstrengung.
Hinter ihm stand der junge Krieger Cass und hatte sein hübsches Gesicht ärgerlich verzogen.
»Verzeihung, Mylord. Ich konnte ihn nicht aufhalten.«
Colgü betrachtete den Gesandten des Königs von Laigin mit Mißfallen.
»Was hat dieses unhöfliche Benehmen zu bedeuten, Forbassach? Hast du dich vergessen?«
Forbassach reckte arrogant und verachtungsvoll das Kinn vor.
»Ich brauche eine Antwort, die ich Fianamail, dem König von Laigin, überbringen kann. Dein König liegt im Sterben, Colgü. Deshalb ist es an dir, auf die Vorwürfe von Laigin zu antworten.«
Fidelma machte eine undurchdringliche Miene, um ihren Ärger darüber zu verbergen, daß sie den Sinn dieser Konfrontation nicht verstand.
Colgü errötete vor Zorn.
»Noch lebt Cathal von Muman, Forbassach. Solange er lebt, ist er es, der auf deine Vorwürfe antwortet. Du hast soeben die Gastfreundschaft dieses Hofes verletzt. Als Thronfolger verlange ich, daß du diesen Ort verläßt. Wenn der Hof von Cashel dir etwas mitzuteilen hat, wird er dich rufen lassen.«
Forbassachs schmale Lippen verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln.
»Ich weiß, daß du die Antwort nur hinauszögern willst, Colgü. Sobald ich sah, daß deine Schwester Fidelma von Kildare angekommen ist, war mir klar, daß du versuchen wirst, uns hinzuhalten und Ausflüchte zu machen. Das wird dir nichts nützen. Laigin verlangt immer noch eine Antwort. Laigin verlangt Gerechtigkeit!«
Colgü konnte sichtlich nur mühsam seinen Zorn beherrschen.
»Fidelma, erkläre mir das Gesetz.« Er sprach seine
Schwester an, ohne den Blick von Forbassach abzuwenden. »Dieser Abgesandte von Laigin hat, meine ich, die Grenzen des geheiligten Gastrechts überschritten. Er ist eingedrungen, wo er es nicht durfte, und er hat uns beleidigt. Darf ich befehlen, daß er mit Gewalt von diesem Hof entfernt wird?«
Fidelma sah den hochmütigen Brehon von Fearna an.
»Entschuldigst du dich für dein unberechtigtes Eindringen in ein privates Gemach, Forbassach?« fragte sie. »Und tust du Abbitte für dein beleidigendes Verhalten gegenüber dem Thronfolger von Cashel?«
Forbassach reckte das Kinn noch höher, und seine Miene verdüsterte sich noch mehr.
»Ich doch nicht.«
»Dann müßtest du als Brehon das Gesetz kennen. Du mußt diesen Hof sofort verlassen.«
Colgü sah den Krieger namens Cass an und nickte ihm kaum merklich zu.
Der hochgewachsene Mann legte Forbassach die Hand auf die Schulter.
Der Abgesandte von Laigin wand sich unter seinem Griff, und sein Gesicht rötete sich.
»Fianamail von Laigin wird von dieser Beleidigung erfahren, Colgü. Sie wird deine Schuld noch vergrößern, wenn du von der Ratsversammlung des Großkönigs in Tara gerichtet wirst!«
Der Krieger hatte den Abgesandten von Laigin ohne sichtbare Gewaltanwendung herumgedreht und ihn zur Tür hinausgeschoben. Dann schloß er sie hinter ihm mit einer entschuldigenden Geste zu Colgü.
Fidelma wandte sich an ihren Bruder, der nun seine steife Haltung lockerte.
»Ich glaube, es wird Zeit, daß du mir erklärst, was sich hier wirklich abspielt«, sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit.
Kapitel 2
Colgü schien die Antwort erneut aufschieben zu wollen, doch als er das Funkeln in den Augen seiner jüngeren Schwester sah, überlegte er es sich anders.
»Na schön«, antwortete er. »Aber gehen wir lieber da hin, wo wir offener sprechen können und nicht noch mal unterbrochen werden. Es gibt viele Lauscher, die den Königen von Muman übel gesonnen sind.«
Fidelma hob überrascht die Augenbrauen, sagte aber nichts dazu. Sie wußte, daß ihr Bruder nicht zu Übertreibungen neigte.
Sie folgte ihm wortlos aus dem Zimmer und durch die Korridore des Palastes, deren Steinwände mit reichen Teppichen verkleidet und mit Kunstgegenständen geschmückt waren, die die Eoganacht-Könige im Laufe der Jahrhunderte gesammelt hatten. Colgü führte sie durch einen großen Raum, den sie als die Tech Screptra, das scriptorium oder die Bibliothek des Palastes, kannte, wo sie als kleines Mädchen lesen und schreiben gelernt hatte. Neben eindrucksvollen illustrierten Pergamenttexten enthielt die Tech Screptra einige der alten Bücher von Muman. Darunter befanden sich die »Stäbe der Dichter«, Stöcke aus Espenoder Haselholz, in die die Schreiber der Vorzeit ihre Sagas, Gedichte und Geschichten in Ogham eingeritzt hatten, der alten Schrift, die noch in Teilen von Muman in Gebrauch war. In dieser Tech Screptra waren die Phantasie und der Wissensdurst des kleinen Mädchens wachgerufen worden.
Fidelma blieb kurz stehen, beinahe überwältigt von Nostalgie, und hing lächelnd ihren Erinnerungen nach. Mehrere Glaubensbrüder saßen dort und brüteten im Licht der blakenden Talgkerzen über den Büchern.
Sie merkte, daß Colgü ungeduldig auf sie wartete.
»Wie ich sehe, öffnet ihr auch weiterhin die Bibliothek den Gelehrten der Kirche«, meinte sie beifällig, als sie zusammen weitergingen. Die große Bibliothek von Cashel war das persönliche Eigentum der Könige von Muman.
»Das wird nie anders sein, solange wir im Glauben bleiben«, antwortete Colgü fest.
»Ich habe aber gehört, daß gewisse engstirnige Glaubensmänner die alten Texte, die >Stäbe der Dichter<, mit der Begründung verbrennen, daß sie von götzen-anbetenden Heiden geschrieben wurden. In Cashel gibt es viele solcher Bücher. Schützt ihr sie vor solcher Intoleranz?«
»Solche Intoleranz ist doch bestimmt nicht mit unserem Glauben vereinbar, kleine Schwester?« bemerkte Colgü trocken.
»Das würde ich auch sagen. Andere vielleicht nicht. Man berichtete mir, Colman von Cork habe vorgeschlagen, alle heidnischen Bücher zu vernichten. Doch ich finde, es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Schätze unseres Volkes nicht verbrannt werden und verlorengehen, nur weil die Intoleranz in Mode kommt.«
Colgü lachte belustigt.
»Die Frage ist überhaupt akademisch. Colman von Cork ist aus Furcht vor der Pest aus dem Lande geflohen. Seine Stimme zählt nicht mehr.«
Sie durchquerten die winzige Familienkapelle. In Fidelmas Familie wurden viele Geschichten überliefert, wie der heilige Patrick selbst nach Cashel gekommen war, um ihren Ahnherrn, König Conall Corc, zum neuen Glauben zu bekehren. Eine besagte, er habe das Kleeblatt, das seamrog, dazu benutzt, Co-nall die heilige Dreieinigkeit zu erklären. Dabei war das nicht schwer zu verstehen, denn alle heidnischen Götter des alten Irland waren dreieinige Götter, vereinigten drei Personen in einem Gott.