Conghus lief rot an.
»Darüber wurde ich nicht informiert. Die Leute sind verpflichtet, sich an die Regel zu halten, und du hättest mir das mitteilen müssen.«
Fidelma seufzte tief.
»Das bedeutet, deine Aufzeichnungen sind unzuverlässig. Sie sind nur so weit vollständig, wie die Leute sich an deine Regeln halten.«
»Schwester Grella weiß, was die Regel vorschreibt, falls sie die Abtei verlassen wollte«, erwiderte Cong-hus störrisch.
»Nur wenn sie wollte, daß ihre Abwesenheit bekannt würde«, warf Cass ein, der endlich etwas zum Gespräch beizutragen fand.
Conghus schnaubte verärgert.
»Was weißt du von Schwester Grella?« fragte ihn Fidelma plötzlich.
Die Frage verwirrte Conghus.
»Was ich von ihr weiß? Sie ist die Bibliothekarin der Abtei, und zwar schon so lange, wie ich sie kenne.«
»Und weiter weißt du nichts?«
»Ich weiß, daß sie aus der Abtei Cealla kam. Ich weiß, daß sie sehr gebildet und hervorragend für ihre Aufgabe geeignet ist. Was sollte ich sonst wissen?«
»War sie jemals verheiratet?« fragte Fidelma.
»Sie hat niemals erwähnt, daß sie früher einmal verheiratet war.«
»Wie gut kannte sie Schwester Eisten?«
Die Frage entsprang einer plötzlichen Eingebung, schien aber Bruder Conghus nicht zu berühren.
»Sie kannte sie, mehr kann ich nicht sagen. Anfang des Jahres trieb Schwester Eisten irgendwelche Studien in der Bibliothek, da nehme ich an, daß die Bibliothekarin sie kannte.«
»Also bestand keine enge Verbindung zwischen ihnen? Sie waren nicht besonders befreundet?«
»Schwester Grella war mit ihr nicht enger befreundet als mit jedem anderen Mitglied der Abtei, das sie kannte.«
»Vor ungefähr einer Woche besuchte Schwester Grella Salbachs Burg in Cuan Doir. Weißt du, warum?«
»Wirklich? Vor einer Woche?« Conghus sah verwirrt aus. »Dann müßte ich es notiert haben.«
Er erhob sich, ging zu einem Regal mit Wachstäfelchen und sah sie durch.
»Du weißt nicht, was sie in Salbachs Burg wollte?« fragte Fidelma, während der Torhüter eifrig nach dem richtigen Täfelchen suchte.
»Nein, es sei denn, Salbach stiftete etwas für die Bibliothek. Manchmal stellen Fürsten fest, daß sie noch alte Stäbe der Dichter besitzen. Solche alten Ogham-Bücher sind jetzt selten, sogar hier in Mu-man. Die Abtei setzt Belohnungen dafür aus, denn sie sammelt sie. Es könnte sein, daß Salbach welche gefunden hat und sie unserer Bibliothek schenken will. Aber wenn Grella zu diesem Zweck oder auch zu einem anderen dorthin gehen wollte, hätte sie es mir mitteilen müssen. Es gibt keinen Beleg dafür.« Er wandte sich von den Täfelchen ab und Fidelma zu. »Ich finde keinen Hinweis darauf, daß Schwester Grella die Abtei verlassen hat, um nach Cuan Doir zu gehen. Sie ist allerdings vor einer Woche nach Rae na Scrine gegangen.«
»Nach Rae na Scrine?« wiederholte Fidelma.
»So steht es verzeichnet«, antwortete Bruder Conghus mit einem zufriedenen Lächeln. »Sie wollte ein Buch von Schwester Eisten abholen und ihr Medikamente bringen.«
»Sie könnte auch in die entgegengesetzte Richtung nach Cuan Doir gegangen sein«, vermutete sie. »Oder sie und Schwester Eisten könnten anschließend nach Cuan Doir gereist sein.«
»Sie hätte es uns gesagt, wenn sie nach Cuan Doir wollte«, antwortete Conghus unerschütterlich. »Es gibt keinen Hinweis darauf.«
»Wenn es verzeichnet worden wäre.«
»Natürlich wäre es verzeichnet worden. Salbach im Auftrag der Abtei zu besuchen hätte der Genehmigung und des Segens des Abts bedurft.«
»Wer sagt denn, daß sie im Auftrag der Abtei dort war?« fragte Fidelma.
»Warum denn sonst sollte die Bibliothekarin den Fürsten dieser Gegend aufsuchen?«
»Ja, warum wohl?« Fidelma war mit ihrer Geduld am Ende. »Besten Dank für deine Hilfe, Conghus.«
»Meinst du, daß er uns etwas verheimlicht?« fragte Cass Fidelma, als sie draußen waren. »Er scheint nicht sonderlich hilfsbereit zu sein.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich vermute, Bruder Conghus lebt einfach nach den Regeln und kann sich nicht vorstellen, daß es jemand nicht tut.«
Während sie noch da standen und redeten, kam Bruder Conghus heraus geeilt, nickte ihnen kurz zu und hastete über den gepflasterten Hof zum Glockenturm.
»Es muß Zeit für die Completa sein«, murmelte Cass.
Wie zur Antwort begann wenige Augenblicke später die Glocke die Brüder zum Gottesdienst zu rufen.
Zuletzt hatte Fidelma in Rom an einer so großartigen Messe teilgenommen, als die Leiche Wighards, des ermordeten Erzbischof-Anwärters von Canterbury, in der prunkvollen runden Basilika von St. Johannes im Lateran aufgebahrt lag. Ein Dutzend Bischöfe und ihr Gefolge und der Heilige Vater selbst hatten den Gottesdienst gehalten.
Die dunkle, hohe Abteikirche war nicht mit dem Glanz der römischen Basilika zu vergleichen, doch eindrucksvoll war sie auch. Wandbehänge bedeckten die hohen Granitmauern, und Kerzen verbreiteten Wärme, Licht und verschiedenartige Düfte. Fidelma saß in der Bank für Ehrengäste und Cass neben ihr. Ringsum standen die Mönche, Nonnen und Schüler der Abtei, um dem verschiedenen König Cathal von Cashel die Ehre zu erweisen. Fidelma musterte die Gesichter sorgfältig, konnte aber Schwester Grella nicht entdecken.
Die Chorsänger erhoben ihre Stimmen zum Sanctus.
»Is Naofa, Naofa, Naofa Tu, a Thiarna. Dia na Slua...«
»Du bist heilig, heilig, heilig, o Herr der Heerscharen ...«
Etwas ließ Fidelma quer durch das Kirchenschiff schauen, etwas wie ein sechster Sinn trieb sie dazu.
Sie blickte in die Augen von Schwester Necht, die sie wie gebannt anstarrte. Die Novizin hatte sie beobachtet; nun senkte sie rasch den Kopf und schaute zu Boden. Fidelma wollte sich abwenden, als sie merkte, daß noch jemand starr in den Raum blickte, doch in diesem Fall war Schwester Necht selbst das Ziel und der rundgesichtige Bruder Rumann der Beobachter. Neben Rumann saß Bruder Midach und schaute ebenfalls auf die junge Novizin. Fidelma sah zu ihrer Überraschung, daß jede Spur von Fröhlichkeit aus dem Gesicht des Arztes gewichen war. Wenn Blicke töten könnten, dachte sie, dann wäre Midach bestimmt am Tod der jungen Frau schuldig. Plötzlich spürte Midach ihren Blick, zwang sich zu einem Lächeln und konzentrierte sich mit gesenkten Augen auf den Gottesdienst. Als sie Bruder Rumann noch einmal anschaute, lauschte auch der aufmerksam den Worten der Liturgie.
Fidelma fragte sich, was das alles zu bedeuten habe. Als sie wieder dem Gottesdienst zu folgen vermochte, waren die Chorsänger schon beim Agnus Dei angekommen.
In der Pause vor dem Einsatz zum A Ri an Domh-naigh - Großer Gott - war plötzlich ein seltsames Geräusch zu hören. Die Chorsänger verstummten. So wurde das Geräusch besser wahrnehmbar. Ein erschrockenes Murmeln lief durch die Menge, denn nun erkannte man deutlich das herzzerreißende Schluchzen eines Kindes.
Jeder schaute sich suchend nach dem Kind um, doch niemand fand heraus, woher das Schluchzen kam. Es schien die große Abteikirche zu durchziehen, sich an ihren Granitmauern zu brechen und widerzuhallen.
Mehrere Brüder, bei denen der Aberglaube stärker war als die Logik, sanken in die Knie.
Selbst Abt Brocc tauschte beunruhigte Blicke mit den älteren Priestern.
Fidelma spürte, wie Cass ihren Arm berührte. Der Krieger nickte zum Kirchenschiff hin, und als Fidelma seinem Blick folgte, sah sie, wie Bruder Midach rasch das Gebäude verließ.
Kurz bevor er die Tür erreichte, hörte das Weinen plötzlich auf. Alles war totenstill. Als die Tür hinter Midach zuschlug, fuhr die ganze Gemeinde zusammen.
Der Chordirigent klopfte auf sein hölzernes Pult, und die Stimmen erhoben sich nun zum A Ri an Domhnaigh, zögernd zuerst, doch dann mit wachsender Zuversicht und Stärke.