Der Gottesdienst verlief ohne weiteren Zwischenfall. Abt Brocc sprach beredt und voller Trauer über den Tod des alten Königs durch die Gelbe Pest, aber freudig über die Einführung des neuen Königs und erflehte den Segen Christi, Seiner Apostel und aller Heiligen der fünf Königreiche für die künftige Wohlfahrt des Königreichs und für eine weise Regierung des neuen Herrschers Colgü.
Als sich die Gemeinde nach dem Schlußsegen langsam zerstreute, sagte Fidelma zu Cass, sie würde später mit ihm reden, und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die andere Seite des Kirchenschiffs, dorthin, wo sie Schwester Necht gesehen hatte. Doch als sie anlangte, war Necht bereits verschwunden.
Fidelma unterdrückte einen verärgerten Seufzer und wandte sich zur nächsten Tür, die auf den Hof gegenüber den mächtigen Speichern der Abtei hinausführte. Die Nacht wurde vom unruhigen Licht vieler Laternen erhellt, die man wohl angezündet hatte, damit alle ihren Weg zu den verschiedenen Schlafsälen fanden.
Ihren Gedanken nachhängend, entschloß sich Fidelma, nicht sofort zum Gästehaus zurückzugehen, sondern dem Pfad zum Kräutergarten zu folgen, den Bruder Segan ihr gezeigt hatte. Sie wollte allein sein und nachdenken, und dafür schien ihr der duftende kleine Garten der ideale Ort.
Ein leiser Schrei aus dem Sträuchergarten vor ihr veranlaßte sie stehenzubleiben.
An dem Brunnen im Arboretum waren zwei Schatten zu erkennen. Eine schlanke Gestalt wurde von einer kräftigeren, mehr männlich aussehenden festgehalten. Die zierlichere Gestalt kam Fidelma irgendwie bekannt vor.
»Du freches junges ...«
Die Stimme erkannte sie als die Bruder Midachs. Sie klang jetzt scharf und zornig.
Fidelma sah, wie der Arzt die Hand hob und damit der anderen Gestalt auf den Hinterkopf schlug.
Sie gab einen Schmerzenslaut von sich.
»Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen!« sagte eine heisere Stimme, von der Fidelma meinte, sie müßte sie kennen.
Fidelma wollte schon vortreten und fragen, was es da gäbe, als sie hörte, wie Bruder Midachs Stimme der anderen Gestalt Vorwürfe machte.
»Du tust, was ich dir sage. Solch ein Ausbruch kann uns alle ins Verderben stürzen! Die Grabstätte hat ein Echo. Wenn wir entdeckt werden, ist das das Ende unserer Hoffnungen auf Osraige.«
Die Schatten bewegten sich in der Dunkelheit, und sie verlor sie aus den Augen. Im Arboretum rührte sich nichts mehr.
Fidelma lauschte, hörte aber nichts.
Sie schritt vorsichtig vorwärts. Es war, als habe der Erdboden sich plötzlich geöffnet und die Gestalten verschluckt, denn der ummauerte Garten besaß keine andere Tür als die, durch die sie gekommen war.
Sie untersuchte das Gelände so sorgfältig wie möglich, fand aber keine Spur von Midach und der anderen Gestalt, keinen Durchgang und keine Pforte, durch die sie hätten verschwinden können. Sie spähte sogar in die Schwärze des Brunnens hinunter, des Brunnens des heiligen Fachtna, doch sie hatte ihn bei Tageslicht gesehen und wußte, daß er in eine fast bodenlose Tiefe führte.
Erst nach einer halben Stunde gab sie es auf, das Rätsel zu lösen, und ging widerwillig zum Gästehaus zurück. Cass wartete mit schlecht verhohlener Ungeduld auf sie.
»Ich wollte dich schon als vermißt melden, Schwester«, beklagte er sich. »Wo doch so viele Leute verschwinden, dachte ich, du wärst denselben Weg gegangen.« »Was gibt es denn so Dringendes?« erkundigte sie sich und überlegte, ob sie ihm verraten sollte, daß sie gerade wieder beobachtet hatte, wie zwei Personen auf erstaunliche Weise verschwanden. »Sind die Brüder beunruhigt wegen der Kinderstimme während des Gottesdienstes?«
»Weniger beunruhigt als in Angst«, antwortete Cass. »Selbst dein Vetter glaubt anscheinend, das Schreien sei das geisterhafte Echo einer verlorenen Seele gewesen.«
Fidelma lächelte spöttisch.
»Sicher gibt es auch noch intelligentere Meinungen dazu?«
»Na, die einzige, die ich gehört habe, kam von Bruder Rumann, der meinte, es sei eine Verzerrung des Geräuschs des Wassers in dem Brunnen unter der Abtei.«
»Ach«, seufzte Fidelma. »Ich glaube, ich lasse sie noch eine Weile in ihrer Unwissenheit. Aber das war doch wohl alles nicht so vordringlich, daß es dich in Unruhe versetzte?«
Cass schüttelte den Kopf.
»Nach dem Gottesdienst kam ich mit Bruder Mar-tan ins Gespräch. Er ist .«
»Ein Mann mit einer Leidenschaft für Reliquien, der Gott sei Dank die Leinenstreifen aufbewahrt hat, mit denen Dacan gefesselt wurde. Wir haben ihn vorhin am Strand neben Midach gesehen, als der Schwester Eistens Leiche untersuchte.«
»Genau.«
»Und?« drängte Fidelma.
»Bruder Martan und ich sprachen darüber, welchen Grund jemand gehabt haben könnte, Dacan umzubringen. Martan bestätigte ebenfalls, daß Dacan kein liebenswerter Mensch war.«
»Das zumindest wissen wir nun mit Bestimmtheit«, stellte Fidelma gelangweilt fest.
»Er erzählte mir, daß Midach einmal gesagt habe, es gebe mehrere Leute, die er lieber tot als lebendig sehen möchte, und Dacan sei einer davon.«
Fidelma hob den Kopf ein wenig.
»Das hat Midach gesagt? Warum denn?«
»Anscheinend ist Martan Zeuge eines heftigen Streits zwischen Midach und Dacan geworden.«
»Eines Streits wegen Laigin? Das habe ich alles schon gehört. Midach beleidigte Laigin, weiter nichts.«
»Laut Martan stritten sie sich wegen etwas anderem.« Cass sah verlegen aus. »Anscheinend gab es Krach wegen Schwester Necht.«
»Necht? Worum ging es denn da?« Fidelma war plötzlich interessiert.
»Anscheinend beschuldigte Dacan Midach, ein Verhältnis zu haben . weißt du .«
Cass zögerte, als wäre es ihm peinlich.
»Ich verstehe«, sagte Fidelma knapp. »Dacan erhob gegen Midach den Vorwurf, er habe eine Liebschaft mit Schwester Necht? Bist du sicher? Nein«, fuhr sie rasch fort, »besser ist es, ich weiß es ganz genau. Ich glaube, ich muß mit Bruder Martan sprechen.«
Cass lächelte selbstzufrieden.
»Deshalb habe ich ihn ja hierbehalten. Er sitzt oben im Zimmer und wartet auf dich.«
Bei dem jetzt besseren Licht betrachtet, sah Bruder Martan recht schwächlich aus. Er war mittleren Alters und hatte einen blassen Teint, schlechte Zähne und hustete schwindsüchtig, was ihm nur erlaubte, in kurzen, atemlosen Stößen zu reden. Er stand auf, als Fidelma eintrat, doch sie winkte ihm, er solle sitzen bleiben.
»Vor allem möchte ich dir danken, Martan, daß du die Leinenstreifen aufgehoben hast. Sie haben uns gute Dienste geleistet.«
Seine trübe Miene veränderte sich nicht.
»Du hast meinem Kollegen hier«, sie deutete auf Cass, »erzählt, daß Midach mit Dacan Streit hatte.«
In Martans Gesicht zeichnete sich Beunruhigung ab.
»Ich will niemanden irgendwie in Mißkredit bringen ...«, begann er. »Midach war immer freundlich zu mir, und ich möchte ihm auf keinen Fall schaden.«
Fidelma hob besänftigend die Hand.
»Soweit ich weiß, hast du Cass lediglich ein paar Tatsachen mitgeteilt. Gab es einen solchen Streit wirklich? Die Wahrheit zu sagen, Martan, ist immer der einfachste Weg.« Das fügte sie hinzu, weil sie merkte, daß ihm plötzlich klargeworden war, was seine Worte nach sich ziehen konnten.
»Ich möchte Bruder Midach keinen Ärger machen«, beharrte er.
»Hat er sich mit Dacan gestritten oder nicht?« fragte Fidelma.
Martan nickte widerwillig.
»Erzähl mir davon«, forderte Fidelma ihn auf.
»Es war an dem Tag, bevor man Dacan fand. Ich lief zufällig den Gang zur Bibliothek entlang. Ich wollte ein Exemplar der >Aphorismen des Hippokra-tes< ausleihen, das die Abtei besitzt.« Er sagte es voller Stolz. »Ich hörte Stimmen aus dem kleinen Nebenzimmer, in dem Schwester Grella ihr Büro hat. Es liegt neben der Haupthalle der Bibliothek und hat eine Tür zum Gang.«