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Fidelma wartete geduldig, während der Bruder seine Gedanken ordnete.

»Ich hörte Bruder Midachs zornig erhobene Stimme und blieb deshalb an der Tür stehen. Es überraschte mich, ihn in der Bibliothek zu finden. Es war auch ungewöhnlich, daß irgend etwas Bruder Midach zum Zorn reizte, denn sonst ist er ein ruhiger und ausgeglichener Mensch.«

Er hielt verlegen inne.

»Sprich weiter«, bat ihn Fidelma. »Du bliebst an der Tür stehen? Was geschah dann?«

»Ich tat das nur, weil es so ungewöhnlich war, daß Midach in Zorn geriet«, wiederholte Martan, als wolle er sich vom Vorwurf des Lauschens befreien. »Ich erkannte, daß der, mit dem er sich stritt, kein anderer war als der Ehrwürdige Dacan.«

»Und der Grund für den Streit?«

»Anscheinend hatte Dacan Midach beschuldigt, seine Aufzeichnungen durchsucht und Material gelesen zu haben, auf das er kein Recht besaß. Midach stritt das natürlich energisch ab. Dacan war so außer sich vor Wut, daß er drohte, er werde sich über Mi-dach beim Abt beschweren.

Midach antwortete, dann werde er sich darüber beschweren, daß Dacan das Personal des Gästehauses wie Sklaven behandelte, insbesondere Schwester Necht. Darüber geriet Dacan in solche Rage, daß er Midach vorwarf, er habe ein Verhältnis mit Schwester Necht. Midach schien das ernst zu nehmen und antwortete, er handele lediglich als Pflegevater für Necht und sein Verhältnis zu ihr sei rein väterlich. Außerdem, fügte Midach hinzu, gehe das Dacan gar nichts an.«

Es überraschte Fidelma nicht, daß Midach sich als Nechts Pflegevater bezeichnete. Es war üblich, daß Kinder im Alter von sieben Jahren zur Ausbildung aus dem Haus geschickt wurden. Das nannte man in Pflege geben, und die Pflegeeltern waren verpflichtet, ihre Pflegekinder entsprechend deren Rang zu unterhalten und für ihre Ausbildung zu sorgen. Ein Mädchen würde seine Ausbildung meist mit vierzehn Jahren abschließen, obwohl einige Mädchen sie, wie Fidelma, fortsetzten, bis sie siebzehn waren. Doch vierzehn Jahre war für ein Mädchen das Alter der Wahl und der Reife. Bei einem Jungen dauerte die Ausbildung bis zum siebzehnten Lebensjahr. Eine Pflegschaft war ein gesetzlicher Vertrag, der für beide Haushalte von Nutzen sein sollte. Nach dem Gesetz gab es zwei Arten von Pflegschaft. Die eine basierte auf »Zuneigung« und sah kein Honorar vor. Bei der anderen bezahlten die natürlichen Eltern für die Pflegschaft ihres Kindes. Eine Pflegschaft war die vorherrschende Methode, Kindern eine Ausbildung angedeihen zu lassen.

»Bist du sicher, daß er sagte, er sei ihr Pflegevater?«

»Er hat bestimmt den Ausdruck datdn verwendet.«

Das war die juristische Bezeichnung für Pflegevater.

»Wußtest du, daß Midach der Pflegevater von Schwester Necht ist?«

Martan schüttelte den Kopf.

»Und was für ein Verhältnis hat Bruder Midach deiner Meinung nach zu ihr?« forschte sie.

»Zu Necht?«

»Genau.«

»Midach ist Nechts anamchara, ihr Seelenfreund. Weiter weiß ich nichts. Aus dem Grunde sind sie freundlich und vertraut miteinander.«

»Also fühlt sich Midach offensichtlich verantwortlich für Necht?«

»Das nehme ich an«, meinte Martan.

»Hat es dich überrascht, daß Dacan Midach eine solche Affäre vorwarf? Dacan stand im Ruf kühler Gelassenheit. Was veranlaßte ihn, Midach plötzlich so anzugreifen?«

»Er war kein Heiliger. Er war ein seltsamer, übellauniger Mensch, der Midachs Geduld bis zum Äußersten strapazierte«, antwortete Martan. »Ich weiß nur, daß ich gehört habe, wie böse Midach reagierte. Er sagte zu Dacan, er solle sich da nicht einmischen, und wenn er das weiter so treibe und Midach derart beleidige, dann werde Midach .«

Er verstummte, und seine Augen weiteten sich, als er merkte, was er gerade sagen wollte.

»Weiter«, drängte ihn Fidelma. »Offensichtlich hat er ihm mit körperlicher Gewalt gedroht.«

»Midach sagte, er würde ihn umbringen«, gab er leise zu.

Es trat eine Pause ein.

»Glaubst du, daß er es ernst meinte?«

»Bestimmt nicht«, protestierte der Apotheker. »Ich mache mich nicht zum Richter über andere Leute. Midach tut keinem etwas zuleide.«

»Das ist nicht das, womit Midach drohte«, bemerkte Fidelma trocken. »Als du erfuhrst, daß Dacan genau einen Tag nach diesem Streit den Tod fand, hast du dir da keine Gedanken gemacht? Ich nehme an, du hast Bruder Rumann, der die Untersuchung leitete, nichts davon gesagt?«

Martans Wangen färbten sich leicht rot.

»Ich habe es nicht gemeldet, weil ich es nicht für wesentlich hielt. Midach war nicht in der Abtei, als Dacans Leiche gefunden wurde. Falls du meinst, ich verdächtige Midach des Mordes, ich tue das nicht. Midach ist ein Mensch, der das Leben liebt und es genießt. Er würde ebensowenig daran denken, jemand anderem das Leben zu nehmen wie sich selbst.«

»Also hast du diesen Streit Rumann gegenüber nicht erwähnt«, stellte Fidelma fest. »Warum erzählst du mir jetzt davon?«

Martan errötete.

»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich hatte einzig die Absicht, euch beiden zu verdeutlichen, daß Dacan nicht so ein Heiliger war, wie die meisten Leute glaubten. Er konnte durchaus jemanden grundlos beschuldigen.«

»Und das alles geschah, nachdem Dacan Midach vorgeworfen hatte, er habe seine Notizen und Aufzeichnungen in der Bibliothek durchforscht?«

»Midach hat das bestritten«, erinnerte sie Martan.

»Nur noch eins. Du sagst, daß Midach an dem Abend, bevor Dacan getötet wurde, die Abtei verließ. Wie ich hörte, kehrte er erst sechs Tage später zurück. Weißt du, warum er fort war und wohin er wollte?«

Martan schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nur, daß die Reise nicht geplant war. Er fuhr mit dem Schiff. Wahrscheinlich gab es einen medizinischen Notfall in einem der Dörfer. So etwas passiert häufig.«

»Weshalb glaubst du, daß sie nicht geplant war?«

»Weil er niemandem etwas davon sagte außer Schwester Necht, die Bruder Tola erst informierte, als er die Abtei bereits verlassen hatte.«

»Wann war das?«

»Kurz vor der Completa. Sein Schiff muß mit der Nachmittagsflut ausgelaufen sein, sonst hätte er erst am späten Vormittag des nächsten Tages abreisen können.«

Fidelma kniff die Augen zusammen.

»Bist du dir bei diesen Zeitangaben sicher?«

»Absolut.«

»Nun«, Fidelma lehnte sich zurück, »ich glaube, du hast uns sehr geholfen, Martan. Du kannst jetzt gehen, aber ich wäre dir dankbar, wenn du über unser Gespräch mit niemandem reden würdest - vor allem nicht mit Bruder Midach. Verstehst du mich?«

Martan stand unsicher auf.

»Ich glaube, ja, Schwester. Ich hoffe nur, ich habe nichts Falsches gesagt .«

»Wie könnte man mit der Wahrheit etwas Falsches sagen?« fragte Fidelma ernst.

Kapitel 12

Als Schwester Fidelma am nächsten Morgen zur Bibliothek unterwegs war, um festzustellen, ob Schwester Grella zurückgekehrt war, wurde sie in Abt Broccs Zimmer gerufen.

»Kusine, ich schicke heute nachmittag einen Boten nach Cashel. Möchtest du eventuell die Gelegenheit nutzen, deinem Bruder eine Botschaft zu übermitteln?«

Fidelma wollte schon verneinen, als ihr ein Gedanke kam.

»Ja. Ich möchte, daß mein Bruder mit dem Obersten Brehon in Verbindung tritt, damit dieser veranlaßt, daß Assid von Ui Dego, der Kaufmann aus Laigin, zu der Ratsversammlung vorgeladen wird, wenn sie über den Tod Dacans verhandelt. Es ist wesentlich, daß Assid einige Fragen gestellt werden.«

»Assid? Der Kaufmann, der sich in der Nacht, in der Dacan ermordet wurde, in der Abtei aufhielt?« Hoffnung trat in Broccs Blick. »Meinst du, daß Assid ... meinst du, daß er es gewesen sein könnte ...?«