»Eisten war keine Gelehrte, aber zu Anfang des Jahres arbeitete sie eine Zeitlang in der Bibliothek.«
»Und wie kam es, daß Eisten nach Rae na Scrine geschickt wurde?«
»Soweit ich mich erinnere, meldete sie sich freiwillig dazu, dorthin zu ziehen und sich um die Herberge für Reisende zu kümmern, die wir dort unterhalten. Das war vor ungefähr sechs Monaten. In der Nähe gab es mehrere Waisen, und Eisten übernahm es, auch sie zu versorgen. Sie tat viele gute Werke in Rae na Scrine.«
Er schwieg, ergriff einen Krug mit Wasser und sah Fidelma fragend an. Sie schüttelte den Kopf. Brocc goß sich Wasser in einen Becher und trank langsam.
»Sprich weiter«, ermunterte ihn Fidelma.
»Nun, wir wußten, daß die Gelbe Pest das Dorf in diesem Sommer erreicht hatte. Es ist keine Logik darin zu erkennen, wer ihr zum Opfer fällt und wer nicht. Ich und Bruder Midach zum Beispiel sind an ihr erkrankt, haben sie aber überstanden. So erging es auch Schwester Grella. Eisten hatte sie vorher nicht, ist ihr aber auch dort nicht erlegen.«
»Die Krankheit ist unberechenbar«, stimmte ihm Fidelma zu. »Sprich weiter.«
»Eisten bestand darauf, im Dorf zu bleiben, doch wir hörten, daß sich die Lage verschlimmerte. Midach hat sie dort in der vorigen Woche mehrmals besucht. Schließlich brachtest du uns die schreckliche Nachricht, daß Intat das Dorf zerstört und die Überlebenden niedergemetzelt hat.«
»Du kennst Intat?«
»Nicht persönlich. Aber ich weiß, daß Intat einer von Salbachs engsten Gefolgsleuten ist. Du hast ja erlebt, wie wütend Salbach war, als er in die Abtei kam, nachdem ich ihm gemeldet hatte, was du berichtet hattest. Anfangs wollte er die Geschichte gar nicht glauben. Er lenkte erst ein, als du ihm sagtest, wer du bist, und er deshalb dein Wort nicht mehr anzweifeln konnte.«
»Der ist ein schlechter Fürst, der die Wahrheit nur anerkennt, wenn sie ihm von einer größeren Autorität als seiner eigenen vorgelegt wird«, stellte Fidelma mit Entschiedenheit fest. »Ist dir schon der Gedanke gekommen, daß Intat aus irgendeinem Grunde mit Sal-bachs Zustimmung gehandelt haben könnte?«
Brocc war entsetzt.
»Natürlich nicht. Salbach entstammt dem alten Fürstengeschlecht der Corco Loigde und führt seine Abstammung zurück bis auf ...«
Fidelma unterbrach ihn mit offenem Sarkasmus.
»Ich weiß, er führt seine Abstammung auf Mil Easpain zurück, den Urvater der Kinder Gaels. Trotzdem wäre er nicht der erste berühmte Fürst, der gegen die Gesetze Gottes und der Menschen verstößt. Darf ich dich daran erinnern, daß wir uns vielleicht gerade deshalb in dieser Lage befinden, weil wir Gefangene der Geschichte sind? Es war ein König von Laigin, der auch von alten und berühmten Königen abstammte, der die Schuld der Ermordung des Großkönigs Edirsceal auf sich lud. Damals nahm das Drama seinen Anfang.«
»Das ist eine uralte Geschichte, fast schon eine Legende.«
»So wie diese Geschichte es in tausend Jahren sein wird.«
Brocc lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte langsam den Kopf.
»Ich kann das nicht von Salbach glauben. Außerdem, was hätte er dabei zu gewinnen?«
Fidelma lächelte spöttisch.
»Gewinnen? Ja, was gewinnen wir, wenn wir das eine oder andere tun? Wenn ich die Antwort darauf wüßte, dann hätte ich die Antwort auf so manche Frage. Ich nehme an, du kennst Salbach schon lange?«
»Seit achtzehn Jahren, seit ich in diese Abtei kam. In den letzten zehn Jahren, seit ich hier von den Brüdern zum Abt gewählt wurde, habe ich ihn näher kennengelernt.«
»Und was weißt du von ihm?«
»Was ich weiß? Ich weiß, daß er als ein guter Fürst gilt. Er ist stolz auf seine Ahnen und manchmal vielleicht etwas selbstherrlich. Alles in allem aber, glaube ich, herrscht er gut und gerecht.«
»Ich habe gehört, er sei ehrgeizig.«
»Ehrgeizig? Sind wir das nicht alle?«
»Vielleicht. Und zielt Salbachs Ehrgeiz eventuell über die Corco Loigde hinaus?«
»Dazu hat er das Recht, Kusine. Wenn er von Ir abstammt, der mit Mil Easpain verwandt war, der dieses Land in der Frühzeit eroberte und mit den Kindern Gaels bevölkerte .«
Fidelma zog ein Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen.
»Erspare mir diese langweilige Genealogie. Ehrgeiz ist schön und gut, solange der Spatz nicht danach strebt, ein Falke zu werden«, bemerkte sie trocken. »Was kannst du mir sonst noch von Salbach erzählen? Kannte er Schwester Eisten?«
»Soviel ich weiß, nein.«
»Überrascht es dich zu hören, daß Eisten vor gut einer Woche zusammen mit Schwester Grella auf Sal-bachs Burg war?«
Broccs Miene verriet, daß es ihn sehr überraschte.
»Also meinst du doch, daß es eine Verbindung zwischen dem Tod der armen Schwester Eisten und dem des Ehrwürdigen Dacan gibt?« fragte er.
»Eine Verbindung schon. Wie stark sie ist, das weiß ich noch nicht. Aber ich bin entschlossen, es herauszubekommen.«
Abt Broccs Gesicht war immer länger geworden, während er sich die Kompliziertheit der Lage vergegenwärtigte.
»Es scheint aber so, als seist du der Lösung des Rätsels um Dacans Tod nicht viel näher gekommen. Und die Zeit arbeitet nicht für uns, Kusine.«
»Das weiß ich sehr gut, Brocc«, antwortete Fidelma leise.
»Nun, denke daran, daß ich nach dem Gesetz in letzter Konsequenz für den Tod Dacans verantwortlich gemacht werde. Ich kann es mir nicht leisten, die Entschädigung oder die Strafe zu zahlen.«
»Mach dir keine Sorgen, Brocc«, versicherte ihm Fidelma. »Laigin ist nicht an dir oder an den sieben cumals Geldstrafe interessiert. Ihnen geht es um den Sühnepreis, und sie haben das Land Osraige im Auge. Sie wären mit nichts anderem zufriedenzustellen.«
»Trotzdem liegt ihr Kriegsschiff immer noch da draußen.« Brocc wies aus dem Fenster auf die Bucht.
»Nach dem Gesetz kannst du Laigin dieses Recht nicht streitig machen«, erwiderte Fidelma. »Das Schiff wird nichts unternehmen. Es soll dich nur an deine Verantwortlichkeit als Abt an der Spitze der Gemeinschaft erinnern, in der Dacan den Tod fand.«
Es klopfte an der Tür, und auf Broccs Aufforderung hin trat Cass ein.
Fidelma sah ihm an, daß er Grella nicht gefunden hatte.
»Nichts«, bestätigte er. »Keine Spur von Schwester Grella. Der Kapitän war wütend, aber er hat mich nicht daran gehindert, das Schiff zu durchsuchen, bis hinunter in den stinkenden Laderaum. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß sie nicht an Bord ist.«
Fidelma spürte, wie sich ihr eine schwere Last auf die Schultern legte.
Sie erhob sich und trat wieder ans Fenster.
Die Segel des fränkischen Handelsschiffs wurden gesetzt. Sie hörte, wie die Leinwand klatschte und sich mit der morgendlichen Landbrise füllte; sie hörte, wie die Befehlsrufe sich mit den Schreien der Möwen mischten, die das behäbig in Fahrt kommende Schiff umkreisten.
»Wieder eine geschlossene Mauer«, sagte sie fast unhörbar. »Aber irgendwo ist eine Tür. Irgendwo«, setzte sie heftig hinzu.
»Welchen Weg willst du nun verfolgen, Kusine?« fragte der Abt besorgt.
Fidelma wollte sich schon vom Fenster abwenden, als ihr Blick auf eine barc fiel, die unter vollen Segeln in die Bucht einlief und um das schwerfällige Handelsschiff herumkurvte wie ein Delphin. Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, warum sie nicht eher darauf gekommen war. Sofort faßte sie einen Entschluß.
»Ich werde die Abtei für eine Weile verlassen, Brocc«, erklärte sie.
»Wohin willst du?« fragte Brocc verblüfft.
»Ich brauche eine gute, schnelle barc«, erwiderte Fidelma, ohne seine Frage zu beantworten. »Wo kann ich eine mieten?«
»Die schnellste barc hier an der Küste gehört einem Seemann namens Ross«, antwortete Brocc, ohne überlegen zu müssen. »Aber er weiß das, und dementsprechend sind seine Preise. Sein Schiff ist dort unten. Jeder Fischer zeigt dir, wo es liegt.«