»Das verstehe ich nicht, Kusine«, sagte Brocc leise. Er sah ziemlich verwirrt aus und war vor Scham rot geworden.
»Wann hast du diese Truhe zum letztenmal geöffnet, Brocc?« fragte sie.
»Als du mich batest, den Beutel dort sicher zu verwahren.«
»Und wo hattest du die Schlüssel?«
»Sie hängen, wie du gesehen hast, an einem Haken unter diesem Tisch.«
»Und wie viele Leute wissen davon?«
»Ich dachte, ich wäre der einzige, der weiß, wo sie sind.«
»Es würde keine große Mühe bereiten, sie zu finden. Wie viele Leute wissen, daß manchmal wertvolle Dinge in der Truhe aufbewahrt werden?«
»Nur einige der höheren Geistlichen der Abtei.«
»Und es versteht sich von selbst, daß sich jeder Zutritt zu deinem Zimmer verschaffen kann, während du die Pflichten deines Amtes erfüllst?«
»Keiner der Brüder dieser Abtei würde so ein Verbrechen begehen und seinen Abt bestehlen, Kusine. Es verstößt entschieden gegen alle Regeln unseres Ordens«, erwiderte Brocc empört.
»Das tut Mord auch«, meinte Fidelma trocken. »Dennoch hat jemand in dieser Abtei sowohl Dacan als auch Schwester Eisten getötet. Du sagst, nur die höheren Geistlichen der Abtei wissen, daß manchmal Dinge von Wert hier hinterlegt werden. Wer zum Beispiel?«
Brocc rieb sich das Kinn.
»Bruder Rumann natürlich. Bruder Conghus. Unser Rektor, Bruder Segan. Bruder Midach ... ach, natürlich auch Schwester Grella. Aber sie ist nicht hier. Das sind alle.«
»Das sind genug. Hast du zufällig erwähnt, daß ich etwas bei dir hinterlegt hatte, während ich fort war?«
Brocc wurde noch röter.
»Meine höheren Mitarbeiter fragten mich allerdings, wohin du gereist seist«, gestand er zögernd ein. »Ich konnte es ihnen nicht sagen, da ich es selbst nicht wußte. Aber sie sind alle in Sorge und hoffen natürlich, daß die Morde aufgeklärt werden. Ich erzählte ihnen, du hättest schon Beweismaterial, das du hier bei mir gelassen hättest . Ja, ich glaube, ich erwähnte, daß . ich sagte, Schwester Grella sollte festgesetzt werden, bis du zurückkämst, und .«
»Also würde jemand nicht lange brauchen, den Aufbewahrungsort der Schlüssel zu finden. Du hättest ihnen auch gleich eine Beschreibung liefern können«, stellte Fidelma verärgert fest. Brocc machte eine hilflose Geste. »Es tut mir wirklich leid.«
»Mir auch, Brocc«, sagte Fidelma. Broccs Sorglosigkeit hatte zum Verlust der entscheidenden Beweisstücke geführt. »Der Diebstahl wird mich nicht daran hindern, die Schuldigen aufzuspüren, aber möglicherweise hindert er mich daran, ihnen ihre Schuld nachzuweisen.« Damit verließ sie das Zimmer.
Die erste Person, die ihr begegnete, als sie über die Höfe zum Gästehaus eilte, war Schwester Necht. Sie schien zu erschrecken, als sie Fidelmas ansichtig wurde.
»Ich dachte, du seist abgereist«, grüßte sie mit ihrer langsamen, dunklen Stimme.
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht fort, ehe nicht meine Untersuchung abgeschlossen ist.«
»Ich habe gehört, du hast angeordnet, Schwester Grella festnehmen zu lassen.«
»Schwester Grella ist verschwunden.«
»Ja. Jeder weiß das und glaubt, daß sie geflohen ist. Hat schon mal jemand auf Salbachs Burg in Cuan Doir nach ihr gesucht?« sagte die Novizin.
»Weshalb?« fragte Fidelma überrascht.
»Weshalb?« Schwester Necht rieb sich das Gesicht und überlegte einen Moment. »Weil sie dort häufig zu Besuch war, ohne es jemandem zu sagen. Sie ist eng mit Salbach befreundet.« Necht hielt inne und lächelte. »Ich weiß das, weil Schwester Eisten es mir erzählt hat.«
»Was hat Eisten dir erzählt?«
»Ach, daß Grella sie einmal auf Salbachs Burg eingeladen hat, weil Salbach sich angeblich für das Waisenhaus interessierte. Sie meinte, die beiden seien eng befreundet.«
Fidelma blickte eine Weile in die arglosen Augen der Novizin.
»Ich habe gehört, Midach sei dein anamchara, dein Seelenfreund?«
Fidelma wunderte sich, daß die Frage solche Panik im Gesicht der Novizin auslöste. Doch im nächsten Moment hatte sich Necht wieder unter Kontrolle.
»Das stimmt«, sagte sie lächelnd.
»Kennst du Midach schon lange?«
»Die meiste Zeit meines Lebens. Er war ein Freund meines Vaters und brachte mich hierher in die Abtei.«
Fidelma fragte sich, wie sie das Thema, das sie im Sinn hatte, am geschicktesten anschneiden sollte, und entschied sich für den direkten Weg.
»Du brauchst dir Kränkungen nicht gefallen zu lassen, weißt du«, sagte sie. Sie dachte an Midachs rauhen Umgang mit ihr, an den Schlag auf den Hinterkopf.
Schwester Necht errötete.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie.
»Ich habe zufällig mitbekommen, wie Midach dich für irgend etwas ausgeschimpft hat, und hatte den Eindruck, er hätte dich geschlagen. Es war im Kräutergarten vor einer Woche, kurz bevor ich wegfuhr.«
Nechts Gesicht spiegelte nicht nur Beschämung, sondern auch Furcht wider.
»Es war ... es war nichts. Ich hatte einen Auftrag von Midach nicht erfüllt. Er ist ein guter Mensch. Manchmal geht sein Temperament mit ihm durch. Du wirst das doch nicht dem Abt berichten? Bitte nicht.«
»Wenn du es nicht willst, Necht, tue ich es natürlich nicht«, beruhigte sie Fidelma. »Doch niemand, vor allem keine Frau, sollte sich von anderen beschimpfen lassen. Nach dem Bretha Nemed ist es ein Verstoß gegen das Gesetz, eine Frau zu belästigen oder sie mit Worten zu beleidigen. Weißt du das?«
Schwester Necht schüttelte den Kopf und senkte den Blick.
»Keine Frau muß Beleidigungen einfach hinnehmen«, fuhr Fidelma fort. »Eine Beleidigung muß kein tätlicher Angriff sein, auch wenn jemand eine Frau verhöhnt, ihr Aussehen kritisiert, auf ihre körperlichen Fehler hinweist oder sie ungerecht und wahrheitswidrig beschuldigt, kann sie die Hilfe des Gesetzes in Anspruch nehmen.«
»So ernst war es nicht, Schwester«, sagte Necht leise. »Ich danke dir für deine Anteilnahme, aber Midach hat es wirklich nicht böse gemeint.«
Die Glocke rief zum Mittagsgebet, Schwester Necht murmelte eine Entschuldigung und lief davon.
An dieser Sache ist offenbar doch mehr dran, dachte Fidelma bei sich. Ein unverkennbarer Schatten von Furcht hatte sich auf das Gesicht des jungen Mädchens gelegt, als Fidelma die Szene im Kräutergarten erwähnte. Nun, sie konnte nicht mehr tun, als Necht auf ihre Rechte hinweisen. Vielleicht sollte sie mit Mi-dach sprechen.
An der Tür des Gästehauses traf sie Cass.
»Weißt du schon das Neueste?« rief er aufgeregt.
»Was denn?« fragte Fidelma.
»Der Großkönig kommt hierher. Die ganze Abtei redet nur noch davon.«
»Ach das!« meinte Fidelma geringschätzig.
»Ich dachte, das wäre wichtig für dich. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, die Verteidigung Mumans gegen die Ansprüche Laigins vorzubereiten.«
»Wirklich, Cass, ich brauche nicht an meine Verantwortung erinnert zu werden«, erwiderte Fidelma. »Es gibt eine schlimmere Neuigkeit als die von der bevorstehenden Ratsversammlung: jemand hat ein paar unserer Beweisstücke aus Broccs Zimmer gestohlen. Anscheinend hat der Trottel von Abt mehreren Leuten gegenüber erwähnt, daß ich sie bei ihm gelassen habe.«
»Wieso nur ein paar der Beweisstücke?« fragte Cass. »Warum hat man nicht den ganzen Beutel gestohlen?«
Fidelma begriff sofort die Bedeutung seiner Worte. Sie hatte das Nächstliegende übersehen. Nur der Og-ham-Stab und das Pergament fehlten. Die Fesseln und Grellas Rock, von dem sie abgerissen wurden, waren jedoch noch da. Warum war der Dieb so wählerisch vorgegangen?
Sie überlegte einen Moment.
»Wo willst du jetzt schon wieder hin?« fragte Cass, als Fidelma plötzlich zur Abteikirche loslief.
»Es gibt etwas, das ich hätte tun sollen, bevor wir nach Sceilig Mhichil aufbrachen«, rief sie über die Schulter zurück. »Schwester Necht hat mich gerade daran erinnert.«