Fidelma sah ihn nachdenklich an. Die noch vorhandenen Beweisstücke belasteten Grella eher stärker, als daß sie sie entlasteten. Sie beschloß, das vorerst für sich zu behalten.
»Es ist eine mögliche Erklärung«, gab sie zu. »Wo befindet sich der Wald von Dor?«
»Salbachs Burg liegt zwischen diesem Wald und dem Meer, es ist kaum eine Viertelstunde zu reiten von hier«, antwortete Cass. »Vielleicht treffen wir unterwegs Salbach, der Grella in die Abtei zurückbringt.«
»Vielleicht«, murmelte Fidelma. »Ich glaube eher, wir werden auf diesem Ritt einiges andere über Grella und Salbach erfahren. Holen wir unsere Pferde aus dem Stall.«
Kapitel 15
Cuan Doir, der Hafen von Dor, lag kaum mehr als drei Meilen von der Abtei entfernt. Der Weg führte quer über die Landzunge durch eine wilde Landschaft von Granitfelsen, Stechginster und Heide. Bäume gab es hier nicht. Immer sah man das Meer und kämpfte mit ständig auflandigen Winden. Auf der Hälfte des Weges kamen Fidelma und Cass an den Überresten eines alten Steinringes vorbei. Hohe graue Granitsteine standen wie Wächter da und zeugten stumm vom Glauben und von den Gebräuchen der Vorfahren. Sie bildeten einen Kreis von etwa zehn Meter im Durchmesser, und dicht dahinter stand eine kleine Steinhütte. Alles schien ganz natürlich zu dieser wilden, wind-durchtosten Landschaft zu passen und Bilder der Vorzeit heraufzubeschwören.
Ein Stück weiter senkte sich der Weg zu einer Bucht hinab, die einen ähnlichen Naturhafen bildete wie Ros Ailithir. In dieser Gegend gab es viele mit Fuchsien durchsetzte Hecken, die einen atemberaubenden Blick einrahmten. Einige wenige Schiffe ankerten in dem kleinen Hafen. Die Siedlung umfaßte mehrere Gebäude, die aber alle überragt wurden von Salbachs Burg, einer runden Steinfeste, so angelegt, daß sie sowohl die Ansteuerung von See wie die Straße zum Hafen beherrschte. Fidelma sah, daß die etwa sieben Meter hohen Mauern der Burg, wie die vieler Burgen, die sie kannte, Trockenmauern waren. Sie schätzte die runde Befestigungsanlage auf ungefähr dreißig Meter im Durchmesser. Sie besaß nur einen Eingang, einen hohen Torweg mit schrägen Pfosten, der nur für einen Reiter breit genug war.
Zwei bewaffnete Krieger standen am Tor herum und beobachteten mit schlecht verhohlener Neugier, wie Fidelma und Cass sich ihnen näherten.
»Ist Schwester Grella aus Ros Ailithir in der Burg?« rief Fidelma und zügelte ihr Pferd. Sie machte sich nicht die Mühe abzusteigen.
»Dies ist die Burg von Salbach, dem Fürsten der Corco Loigde«, kam die Antwort eines der Torwächter. Er änderte seine lässige Haltung nicht, lehnte an der Mauer und starrte sie an.
»Dann würden wir gern mit Salbach sprechen«, sagte Fidelma.
»Er ist nicht da«, gab der Torwächter trocken zur Antwort.
»Wo ist er dann?« fragte Cass und schob sich vor, so daß der Krieger seinen goldenen Halsring sehen und ihn als einen der Elitekrieger von Cashel erkennen konnte.
Der Wächter verriet mit keiner Miene, daß er das Zeichen gesehen hatte. Er blickte Cass dreist an.
»Er ist vor einer Weile weggeritten. Wahrscheinlich ist er auf der Jagd im Wald von Dor, dort in dieser Richtung.«
»War jemand bei ihm?« fragte Fidelma.
»Salbach jagt lieber allein.«
Diese Feststellung schien seinen Kameraden wie ein guter Witz zu amüsieren.
Fidelma winkte Cass, ihr zu folgen, und ritt auf den entfernten Wald zu, auf den der Wächter gedeutet hatte.
»Wenn Grella nicht bei Salbach ist, warum müssen wir ihn dann suchen?« fragte Cass, als ihm ihre Absicht aufging.
»Vielleicht jagt Salbach ja doch nicht allein?« meinte Fidelma. »Die Vorstellung scheint dem Gefährten unseres liebenswürdigen Freundes äußerst komisch vorgekommen zu sein.«
Sie ließen ihre Pferde im Schritt gehen auf dem Weg, der sich jetzt wieder vom Ufer emporwand, ein paar Meilen quer über Bodenwellen führte und dann in einen dichten Wald hinein. Fidelma bemerkte, daß sich in ihm viele Baumarten fanden, vorherrschend jedoch waren Nadelbäume, gemischt mit Birken und Haselsträuchern. Überall wuchs üppiges Heidekraut.
Plötzlich sahen sie sich einem kleinen Fluß gegenüber, der in stürmischem Lauf von den Bergen herunterkam und dem Meer hinter ihnen zustrebte. Er war breit und offenbar recht flach an dieser Stelle. Fidelma wollte in ihn hineinreiten, als Cass sie mit einem leisen Zuruf zurückhielt.
Wortlos wies er zum anderen Ufer.
Fidelma erblickte dort, ein Stück entfernt, eine kleine Holzfällerhütte. Aus ihrem Schornstein stieg Rauch auf.
Vor der Hütte standen zwei Pferde. Eins war ziemlich reich aufgezäumt, das andere sehr einfach.
Fidelma wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Cass.
»Wir reiten hinüber«, befahl sie und trieb ihr Pferd durch die Furt, zu der der Weg sie geführt hatte. Hier war der Fluß an der tiefsten Stelle kaum mehr als einen halben Meter tief. Vorsichtig ritten sie das andere Ufer hoch.
»Wir lassen unsere Pferde dort zwischen den Bäumen«, meinte Fidelma und wies auf eine kleine geschützte Stelle ein Stück weit vor ihnen. »Dann gehen wir zu Fuß zu der Hütte. Ich vermute, dort finden wir sowohl Salbach als auch unsere verschollene Bibliothekarin.«
Cass schüttelte verwundert den Kopf, widersprach aber nicht.
Fidelma hatte beschlossen, sich der Hütte heimlich zu nähern, denn ihr war eine Reihe von Gedanken gekommen, die sie zu einer Schlußfolgerung geführt hatten, die sie zwar wenig rühmlich fand, deren Logik jedoch zu den Dingen zu passen schien, die sie bisher erfahren hatte.
Sie folgten einem schmalen Pfad parallel zum Flußufer und kamen zu der kleinen Lichtung, auf der die Holzfällerhütte stand.
Sie blieben am Rande des Waldes stehen. Fidelma hob den Kopf und lauschte.
Aus der Hütte drang das helle Lachen einer Frau.
Fidelma sah Cass an. Anscheinend hatte sie mit ihrer Voraussage recht behalten.
Sie wollte schon auf die Hütte zugehen, als Cass sie am Arm packte.
Da hörte auch sie den leisen Hufschlag eines herantrabenden Pferdes.
Rasch zog sie sich in den Schutz des Unterholzes zurück und hockte sich neben Cass nieder.
Von der anderen Seite der Lichtung jagte ein Reiter heran und hielt vor der Hütte. Er war untersetzt und trug einen Wollmantel, wirkte ungepflegt und schmutzig; es war ein Krieger.
»Salbach!« rief er.
Kurz darauf erschien der Fürst in der Tür der Hütte, er zog sich gerade das Hemd an.
»Was gibt’s?« rief er und warf sich einen pelzbesetzten Mantel darüber.
»Die Verhandlung soll in den nächsten Tagen in Ros Ailithir stattfinden. Und Ross’ barc ankert in der Bucht. Sie müssen zurückgekehrt sein.«
Fidelma sah, wie Cass sie mit großen Augen anblickte. Sie schnitt eine Grimasse.
»Weiß sie es?« fragte Salbach.
»Das bezweifle ich. In Sceilig Mhichil war darüber nichts zu erfahren.«
»Na, ich glaube, ich weiß, wo sie sich verstecken«, meinte Salbach.
»Das wird den bo-aire freuen«, brummte der Krieger.
Salbach ging zu seinem Pferd und schwang sich behende in den Sattel.
»Ich begleite dich nach Cuan Doir, und unterwegs gebe ich dir meine Anweisungen für Intat.«
Cass blickte Fidelma bedeutungsvoll an.
Salbach und der Krieger ritten zum Fluß und durchquerten die Furt.
»Ich dachte, Salbach wollte Krieger aussenden, um Intat festzunehmen, damit er wegen des Verbrechens in Rae na Scrine vor Gericht kommt?« flüsterte er.
»Intat und Salbach stecken offensichtlich unter einer Decke«, antwortete Fidelma, stand auf und klopfte sich die Blätter vom Habit. »Das hatte ich schon vermutet. Komm, ich glaube, es wird Zeit, daß wir ein Wörtchen mit unserer verschollenen Bibliothekarin reden.«