Sie ging mit festen Schritten über die Lichtung zur Tür der Hütte und stieß sie kurzerhand auf.
Schwester Grella, noch nicht angekleidet, fuhr herum und starrte sie entgeistert an.
Fidelma lächelte kalt.
»Nun, Schwester Grella? Anscheinend hast du beschlossen, das Nonnendasein aufzugeben.«
Mit offenem Mund und bleichem Gesicht starrte Schwester Grella an Fidelma vorbei auf Cass, der ihren Blick mit gleichem Erstaunen zurückgab. Dann brach Grella den Bann, indem sie ein Kleidungsstück ergriff und sich damit bedeckte.
Fidelma drehte sich um und schaute Cass vorwurfsvoll an.
Der junge Krieger wurde rot, trat rückwärts aus der Hütte und stellte sich neben die Tür.
»Zieh dich an, Grella«, befahl Fidelma, »und dann reden wir miteinander.«
»Wo ist Salbach?« flüsterte die ehemalige Bibliothekarin. »Was hast du vor?«
»Salbach ist fortgeritten, wie du ja wohl bemerkt hast«, antwortete Fidelma. »Und was deine zweite Frage angeht, nun, das kommt darauf an. Zieh dich endlich an.«
Fidelma fand einen Stuhl und setzte sich.
Grella tat, wie ihr geheißen.
»Nimmst du mich mit zurück in die Abtei?«
Fidelma lächelte spöttisch.
»Du hast dich für dein Verhalten sowohl nach dem kirchlichen wie nach dem weltlichen Recht zu verantworten.«
»Ich habe nicht gesündigt. Salbach will mich zu seiner zweiten Frau nehmen. Die Abtei habe ich für immer verlassen.«
»Ohne das dem Abt mitzuteilen? Und du sagst, Salbach ist schon verheiratet?«
»Seine Frau ist alt«, antwortete Grella, als wäre das eine Erklärung für alles.
»So wie Dacan alt war?« fragte Fidelma harmlos.
Grella schaute sie verblüfft an. Dann fing sie sich und zuckte die Achseln.
»Das hast du also herausgefunden? Ja, wie Dacan es war. Verrunzelt, müde und schwach war er. Deshalb habe ich mich von ihm scheiden lassen.«
»Nachdem der Glaube in dieses Land gekommen ist, haben die Bischöfe die Sitte, eine zweite Frau oder einen zweiten Mann zu nehmen oder eine Konkubine zu halten, verurteilt«, bemerkte Fidelma. »Wenn Sal-bach dich zu seiner zweiten Frau nimmt, wird dich die Kirche verurteilen.«
Grella lachte höhnisch.
»Vor ein paar Jahren hatte Nuada von Laigin zwei Frauen. Das weltliche Gesetz gesteht dem Mann immer noch das Recht auf eine zweite Frau zu.«
»Ich kenne das Gesetz, Grella. Doch du bist eine Nonne und müßtest wissen, daß die Regeln des Glaubens oft im Gegensatz zum weltlichen Recht stehen.«
»Aber deine Aufgabe ist es, das weltliche Recht durchzusetzen«, fuhr Grella sie an.
Fidelma verfolgte dieses Thema nicht weiter, denn sie wußte, daß die Kirche sich zwar gegen die in alten Zeiten weit verbreitete Polygynie stellte, doch nur mit begrenztem Erfolg. Schließlich hatte ein Brehon, der den Gesetzestext des Bretha Crolige verfaßte, verzweifelt vermerkt: »Es gibt im irischen Gesetz verschiedene Meinungen darüber, was angemessener ist, viele geschlechtliche Verbindungen einzugehen oder nur eine, denn da das auserwählte Volk Gottes in Vielehe lebte, fällt es leichter, dies zu preisen als zu verurteilen.« Grella hatte recht. Aber Fidelma ging es nicht in erster Linie um die Moral ihres Liebesverhältnisses mit Salbach von den Corco Loigde.
»Du hattest also vor, niemals wieder in die Abtei zurückzukehren? Warum hast du dann deine persönlichen Besitztümer nicht mitgenommen?«
Grella biß sich auf die Lippen. Sie hatte sich fertig angezogen und ihr Haar in Ordnung gebracht. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie vor Fidelma.
»Ich brauche mich nicht zu entschuldigen. Es ist nicht viel, was ich noch in der Abtei habe, und was ich brauche, bekomme ich von Salbach. Vielleicht kehre ich noch einmal dorthin zurück, nachdem ich Sal-bachs Frau geworden bin. Dann wagt es niemand mehr, mir Vorwürfe zu machen. Ich stehe dann unter Salbachs Schutz.«
»Salbach ist ebenso dem Gesetz verantwortlich wie du, Grella. Es gibt ein paar Fragen, die du zu beantworten hast, und zwar sofort. Du wußtest, daß dein früherer Mann Dacan mit einer besonderen Absicht nach Ros Ailithir gekommen war?«
»Wieviel weißt du wirklich?« fragte Grella ein wenig ängstlich.
»Ich weiß, daß du einmal mit Dacan verheiratet warst.«
»Das muß dir Mugron erzählt haben. Es war ein blöder Zufall, daß er mich in Cuan Doir gesehen hat.«
»Er sah dich dort mit Schwester Eisten«, sagte Fidelma ruhig. Grella ging nicht darauf ein.
»Was spielt das für eine Rolle? Ich habe dir mein Verhältnis zu Salbach erklärt.«
»Warum hast du Schwester Eisten zu Salbachs Burg mitgenommen?«
»Salbach hat mich darum gebeten. Er hatte gehört, daß Eisten ein Waisenhaus in Rae na Scrine führte. Er wollte sie und die Kinder kennenlernen. Er wußte, daß ich mit ihr befreundet war.«
»Und hat sie die Kinder mitgebracht?« fragte Fidelma.
»Nein, sie begleitete mich nach Cuan Doir, weigerte sich aber, die Kinder mitzunehmen, wegen der Gelben Pest.«
»War Salbach verärgert, als sie ohne die Kinder kam?«
Grella sah sie neugierig an.
»Weshalb hätte er sich darüber ärgern sollen?«
Fidelma lehnte sich zurück und schwieg einen Moment.
»Weißt du, daß Eisten ermordet worden ist?«
Grellas Gesicht wurde plötzlich zu einer starren Maske. Es war offensichtlich, daß sie es erfahren hatte, und Fidelma merkte, daß die Bibliothekarin hinter der Maske sichtlich erschüttert war.
»Ich habe es erst vor ein paar Tagen gehört.«
»Nicht früher?«
Sie schüttelte den Kopf, und irgendwie spürte Fidelma, daß sie die Wahrheit sagte.
»Es scheint dir nahezugehen. Du sagtest, ihr wart befreundet. Wie eng?«
»Seit Eisten zu Anfang des Jahres bei mir in der Bibliothek Studien trieb, waren wir Seelenfreundinnen.«
Seelenfreundinnen! Ja, Eisten hatte Fidelma erzählt, daß sie eine Seelenfreundin in der Abtei besaß. Was hatte Eisten Fidelma gefragt, als sie sich zum letztenmal sahen? Kann eine Seelenfreundin das Vertrauen brechen?
»Ihr hattet also kaum ein Geheimnis vor einander?«
»Du weißt, was eine anamchara bedeutet«, erwiderte Grella kühl. Fidelma sah ihrem Gesicht an, daß sie dazu nichts weiter erfahren würde. Sie wechselte also das Thema. »Du hast mir, als ich bei dir in der Bibliothek war, schon gesagt, daß du wußtest, woran Dacan arbeitete. Aber du hast mir nicht gesagt, daß er auf der Suche nach den Nachkommen des ursprünglichen Königshauses von Osraige war.«
Grella warf Fidelma einen beunruhigten Blick zu.
»Woher weißt du das?« fragte sie.
»Ich habe Dacans Aufzeichnungen gelesen.«
Grella hob die Hand, als wolle sie sich an die Kehle fassen.
»Du ... du hast sie gesehen?«
Fidelma schaute sie prüfend an.
»Ich habe dein Zimmer durchsucht, Grella. Es war dumm von dir, anzunehmen, du könntest die Pergamente verstecken oder mir die Texte der Ogham-Stäbe falsch deuten.«
Sie hatte gedacht, Grella werde alles heftig abstreiten, doch zu ihrem Erstaunen zuckte sie nur die Achseln.
»Ich dachte, niemand würde die Pergamente und die Stäbe finden. Ich glaubte, ich hätte sie gut versteckt. Ich wollte sie vernichten.«
»Du wußtest nicht, daß ich sie schon vor einer Woche an mich genommen hatte?«
»Ich habe dir doch bereits gesagt, daß ich seitdem nicht mehr in der Abtei war.«
Fidelma beließ es für den Augenblick dabei. »Nun, du wußtest also, daß Dacan den Erben Illans suchte, der Anspruch erheben konnte, der rechtmäßige Anwärter auf das Kleinkönigtum von Osraige zu sein?«
»Das habe ich bereits zugegeben«, bestätigte Grella.
»Und du hast Salbach davon erzählt?«
Sie zuckte verlegen die Schultern, gab aber keine Antwort.
»Der gegenwärtige König von Osraige, Scandlan, ist Salbachs Vetter, nicht wahr? Also müßte Salbach ein Interesse daran haben, dafür zu sorgen, daß man den Sohn Illans nicht findet.«