»Ich dachte nur, Salbach sollte es wissen, daß jemand nach Illans Nachkommen forscht«, antwortete Grella. »Ich wollte weitere Kriege in Osraige verhindern. Als Illan versuchte, Scandlan zu stürzen, wurde viel Blut vergossen.«
»Also hast du Salbach von Dacan erzählt. Salbach begriff, daß Laigin wieder die Herrschaft über Osrai-ge gewinnen könnte und vielleicht einen König einsetzen würde, der auf Laigin hörte statt auf Muman.«
»Wenn du meinst«, bemerkte Grella gleichgültig.
»Dacan stellte also eine Gefahr dar für Salbachs Familie in Osraige. War das der Grund, warum du deinen früheren Gatten ermordet hast?«
Einen Augenblick schien Grella zutiefst betroffen.
»Wer beschuldigt mich, ihn getötet zu haben?« fragte sie.
»Die Fesseln, die man ihm angelegt hatte, bestanden aus blaurotem Leinen. Besitzt du einen blaurot gestreiften Rock?«
»Natürlich nicht.« Das klang nicht gerade überzeugend.
»Wenn ich dir nun sage, daß ich bei der Durchsuchung deines Zimmers einen blauroten Leinenrock gefunden habe, von dem ein Stück abgerissen war, das genau den Fesseln entsprach, mit denen man Dacan gebunden hatte, bevor er getötet wurde, behauptest du dann immer noch, daß er dir nicht gehört?«
Grella lief rot an.
»Hast du so einen Rock?« drang Fidelma in sie. »Sag lieber die Wahrheit.«
Grella ließ resigniert die Schultern sinken.
»Das ist schon mein Rock, aber ich habe ihn nicht getragen, seit ich nach Ros Ailithir kam. Ich wollte ihn den Armen geben, aber . « Sie schaute Fidelma fest in die Augen. »Ich habe vielleicht das Vertrauen des alten Dacan gebrochen und Salbach verraten, wonach er forschte, denn ich glaubte, dazu wäre ich berechtigt, aber ich habe ihn nicht getötet. Warum sollte man Dacan ermorden? Er hätte Salbach zu Illans Erben geführt, und das war es, was Salbach wollte.«
Fidelma erkannte die Logik ihrer Argumente. Trotzdem fuhr sie fort: »Du streitest ab, daß du in den letzten Tagen noch einmal in die Abtei zurückgekehrt und in das Zimmer des Abts gegangen bist, um Beweismaterial aus seiner Truhe zu entwenden?«
Grella starrte sie verständnislos an.
Fidelma hatte darauf vertraut, daß Grella vielleicht nicht die Schuldige sei, aber genug wissen müßte, um erkennen zu lassen, wer es war, und daß sie auf die Beschuldigung, verstärkt durch das Beweismaterial, über das Fidelma verfügte, mit einem Geständnis reagieren würde. Das schien jedoch nicht zum Ziel zu führen.
»Du hattest erfahren, daß ich einen Beutel mit Beweismaterial in der Truhe des Abts zurückgelassen hatte?« setzte sie sie dennoch weiter unter Druck.
»Auf keinen Fall«, antwortete Grella. »Wie sollte ich denn, wenn ich nicht einmal wußte, daß du etwas aus meinem Zimmer mitgenommen hattest? Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich in der letzten Woche nicht mehr in der Abtei war.«
»Du hast einen merkwürdigen Zeitpunkt gewählt, die Abtei zu verlassen. Das erweckt irgendwie Verdacht, meinst du nicht auch?«
»Es war Salbachs Vorschlag, daß ich an dem Abend mit ihm gehen sollte. Zu lange schon hatte ich meine Liebe zu ihm verheimlicht. Es wurde Zeit, daß wir uns offen dazu bekannten.«
»Entschuldige, wenn ich mich wiederhole, aber die Wahl des Zeitpunkts ist seltsam.«
»Ich habe Dacan nicht ermordet«, erwiderte Grella fest.
»Dann erkläre mir, warum du Dacans Aufzeichnungen versteckt hast.«
»Das ist nicht so schwierig. Ich wollte nicht, daß jemand anders erfährt, woran Dacan arbeitete. Es wäre besser, wenn die Leute von Laigin den Sohn Illans nicht fänden. Dann können sie ihn nicht dazu benutzen, Salbachs Vetter zu stürzen.«
»Und Salbach war dir dankbar?«
»Ich liebe Salbach.«
»Also hast du das alles aus Liebe . aus Liebe zu Salbach . getan?«
Aus Schwester Grellas Augen schossen Blitze der Empörung.
»Nun gut«, sagte Fidelma und erhob sich. »Laigin tut genau das, es verlangt Osraige als Sühnepreis für die Ermordung Dacans. Es scheint, daß der Krieg, den du verhindern wolltest, wie du behauptest, jetzt bevorsteht.«
Grella stand ebenfalls auf.
»Ich möchte an dich als Frau appellieren, Fidelma. Ich wurde mit Dacan verheiratet, als ich fünfzehn war. Es war eine arrangierte Heirat nach dem neuen Brauch des Glaubens, ich hatte wenig dabei zu sagen. Ich blieb drei Jahre bei ihm. Dacan war alt und nicht in der Lage, Kinder zu zeugen, und mit dieser Begründung ließ ich mich scheiden. Dacan wollte eine peinliche Verhandlung vor dem Brehon, bei der das zur Sprache gekommen wäre, vermeiden und stimmte der Scheidung zu. Ich habe viel von ihm gelernt, und dafür bin ich ihm dankbar. Er hat mir so viel Bildung vermittelt, daß ich auf die kirchliche Schule in Cealla gehen konnte, wo ich meinen akademischen Grad erwarb. Es ist seltsam, aber auf eine Art liebte ich den alten Mann, so unfreundlich er war, wie einen Vater.
Ich habe ihn nicht getötet, Fidelma von Kildare. Ich habe mich in manchem schuldig gemacht, aber ich habe ihn nicht getötet.«
»Schwester Grella, eine innere Stimme sagt mir, daß ich dir glauben soll. Doch die Beweise sprechen gegen dich: Dacans versteckte Aufzeichnungen, die Fesseln, mit denen man ihn band, dein plötzliches Verschwinden aus der Abtei, nachdem du mir deine frühere Ehe mit Dacan und andere Dinge verschwiegen hattest. Du wußtest, daß Dacan nach dem Erben Illans suchte. Am Abend, bevor er starb, schrieb er seinem Bruder, er habe entdeckt, wo Illans Erbe sich verberge. Daraus läßt sich schließen, daß du ihn getötet hast, um zu verhindern, daß er den Erben Illans findet, und um damit deinem Liebhaber Salbach einen Gefallen zu tun.«
»Nein! Das ist nicht wahr. Ich habe diese Tat nicht begangen!«
»Nein? Vielleicht nicht. Aber darüber wird die Ratsversammlung des Großkönigs entscheiden.«
»In deinem Herzen, Fidelma, weißt du, daß ich es nicht war«, sagte Grella zornig.
»Ich handle im Auftrag des Königs von Cashel. Ich erfülle nur meine Pflicht. Ich muß einen Krieg verhindern. Cass!«
Der junge Krieger trat in die Hütte. Er blickte in Grellas bleiches Gesicht und dann in Fidelmas strenge Miene.
»Cass, Schwester Grella kehrt als Gefangene mit uns nach Ros Ailithir zurück.«
»Dann hat sie also gestanden?« fragte er erleichtert.
Grella zischte wütend.
»Etwas gestehen, was ich nicht getan habe? Schafft mich als Gefangene in die Abtei. Salbach wird mich befreien - auf die eine oder andere Weise!«
»Verlaß dich nicht darauf«, riet ihr Cass.
Gemeinsam kehrten sie nach Ros Ailithir zurück. Fidelma ritt voran, und Cass folgte ihr dicht neben Schwester Grella. Fidelma schwieg die ganze Zeit und hing ihren Gedanken nach. Etwas nagte an ihr. Wenn Schwester Grella die Wahrheit sagte, dann war sie der Entdeckung von Dacans Mörder keinen Schritt näher gekommen. Sie hatte noch nicht einmal die Verbindung zwischen Salbach und Intat bewiesen. Und selbst wenn Grella Dacan getötet und ihre Seelenfreundin Eisten verraten hätte, könnte sie dann auch Eisten getötet haben? Und wo waren die Söhne Il-lans? Warum war sich Dacan so sicher gewesen, daß es einen Erben im Alter der Wahl gäbe? Wo steckten die beiden Jungen, die Primus und Victor genannt wurden? Victor und Primus ... Primus ...
Kapitel 16
Victor!
Der Name beschäftigte Fidelma; seit Sceilig Mhichil spukte er ihr im Kopf herum. Das Bild der beiden schwarzhaarigen Jungen aus Rae na Scrine stand ihr ebenfalls immer wieder vor Augen. Doch die Söhne Illans sollten nach der Beschreibung des Mönchs ja kupferrote Haare haben. Aber der Name, der Name Victor ... Hic est meum, Victor. Bedeutete der Name nicht »triumphierend« oder »siegreich«, und hieß das im Irischen nicht Cosrach?