Der Junge schwieg.
Fidelma rang sich ein noch breiteres Lächeln ab.
»Ach«, sagte sie mit leichtem Spott, »vielleicht habe ich deinen Namen falsch verstanden. War es Tressach oder Tassach? Denn Tassach bedeutet faul und träge, einer, der nicht mal reden will. Tassach hört sich eher nach dir an, nicht wahr?«
Der Junge errötete vor Ärger.
»Mein Name ist Tressach!« knurrte er. »Ich bin wild und kriegerisch. Sieh mal, ich hab schon mein Kriegerschwert.«
Er zog das geschnitzte Holzschwert aus dem Gürtel und hielt es ihr hin.
»Das ist wirklich eine furchtbare Waffe«, meinte Fidelma und bemühte sich, ernst zu bleiben, obwohl ihre Augen vor Vergnügen funkelten. »Und wenn du ein echter Krieger bist, dann weißt du auch, daß Krieger einem Ehrenkodex gehorchen müssen. Weißt du das?«
Der Knabe starrte sie unsicher an und schob das Schwert wieder in den Gürtel.
»Was für einen Kodex?« fragte er mißtrauisch.
»Du bist doch ein Krieger, nicht wahr?« lockte ihn Fidelma.
Der Junge nickte nachdrücklich.
»Ein Krieger muß schwören, immer die Wahrheit zu sagen. Er muß bereit sein zu helfen. Wenn ich dich nun nach den Jungen Cetach und Cosrach frage, dann mußt du mir alles sagen, was du weißt. Du wurdest bestimmt Tressach genannt, weil du ein Krieger bist und dem Ehrenkodex gehorchst.«
Der Junge dachte anscheinend darüber nach. Schließlich lächelte er Fidelma an.
»Na gut.«
Sie seufzte erleichtert.
»Kanntest du Cetach und Cosrach gut?«
Tressach schnitt ein Gesicht.
»Sie wollten mit keinem von uns spielen.«
»Mit keinem?« fragte Fidelma stirnrunzelnd.
»Mit keinem der Kinder aus dem Dorf«, ergänzte Ciar. »Jungs!«
Tressach wollte zornig auf sie losgehen, doch Fidelma unterbrach ihn.
»Stammten sie denn nicht aus dem Dorf?«
Tressach schüttelte den Kopf.
»Sie kamen erst vor ein paar Wochen in unser Dorf und wohnten bei Schwester Eisten.«
»Waren sie Waisen?« fragte Fidelma weiter.
Der Junge sah sie verständnislos an.
»Hatten sie eine Mutter oder einen Vater?« wandelte Fidelma die Frage ab.
»Ich glaube, sie hatten einen Vater«, warf das kleine Mädchen namens Cera ein.
»Wieso, mein Schatz?« erkundigte sich Fidelma.
»Sie meint den ganz alten Mann, der ab und zu ins Dorf kam und sie besuchte«, erklärte der Junge.
»Ein alter Mann?«
»Ja. Der alte Mann, der die gemeinen Jungs überhaupt erst in Schwester Eistens Haus brachte.«
Fidelma beugte sich vor.
»Wann war das?«
»Ach, vor Wochen.«
»Wie sah er aus?«
»Er hatte ein Kreuz am Hals, so wie du eins trägst.« Cera warf Tressach einen triumphierenden Blick zu.
Der Junge schnitt ihr eine ärgerliche Grimasse.
»Wer war es?« Fidelma erwartete eigentlich nicht, daß die Kinder das wußten.
»Er war ein großer Gelehrter aus Ros Ailithir«, verkündete Tressach mit selbstbewußter Miene.
Fidelma staunte.
»Woher weißt du das?« fragte sie.
»Weil Cosrach mir das erzählt hat, als ich ihn danach fragte. Dann kam sein Bruder dazu und sagte zu mir, ich sollte den Mund halten und verschwinden, und wenn ich jemand was von seinem aite erzählte, dann würde er mich verhauen.«
»Sein aite? Das Wort hat er gebraucht?«
»Ich hab’s mir nicht ausgedacht!« schniefte der Junge beleidigt.
Aite war eigentlich eine vertraute Anrede an einen Vater. Doch da schon seit Jahrhunderten Kinder in den fünf Königreichen von Eireann zur Erziehung zu Pflegeeltern gebracht wurden, hatte man die vertrauten Bezeichnungen für Vater und Mutter oft auch auf die Pflegeeltern übertragen, so daß die Pflegemutter mit muimme und der Pflegevater mit aite angeredet wurden.
»Nein, natürlich hast du dir das nicht ausgedacht«, versicherte ihm Fidelma. »Ich glaube es dir. Und wie würdest du diesen Mann beschreiben?«
»Er sah nett aus«, schaltete sich Ciar ein. »Er hätte uns nicht gehauen. Er lächelte immer jeden an.«
»Er sah wie ein alter Zauberer aus!« verkündete Tressach, um nicht übertroffen zu werden.
»Sah er nicht! Er war ein lustiger alter Mann«, fiel Cera ein, die offensichtlich nicht länger vom Gespräch ausgeschlossen bleiben wollte, als es sich gehörte. »Er erzählte uns von Kräutern und Blumen und wozu sie gut sind.«
»Und dieser lustige alte Mann besuchte Cetach und Cosrach oft?«
»Ein paarmal. Er besuchte Schwester Eisten«, verbesserte Ciar. »Und mir hat er was über Kräuter erzählt«, fügte sie hinzu. »Er erzählte mir von, von .«
»Er hat es uns allen erzählt«, erwiderte Tressach verächtlich. »Und die Jungs wohnten in Schwester Ei-stens Haus, also besuchte er sie genauso wie Schwester Eisten! Bäh!«
Er streckte dem Mädchen die Zunge raus.
»Jungs!« höhnte Ciar. »Jedenfalls brachte er manchmal noch eine Schwester mit. Aber die war komisch. Sie war keine richtige Schwester!«
»Mädels sind so dumm!« sagte der Junge verächtlich. »Sie war wie eine Schwester angezogen.«
Aibnat blickte Fidelma an. Sie war sichtlich der Meinung, daß es nun genug war.
Fidelma hob die Hand, um den Streit zu beenden.
»Nun ist es gut. Nur noch eine Frage ... Seid ihr sicher, daß der Mann aus Ros Ailithir kam?«
Tressach nickte heftig.
»Das hat mir Cosrach gesagt, als sein Bruder drohte, mich zu verhauen.«
»Und diese Schwester, die mit ihm kam? Könnt ihr sie beschreiben? Wie sah sie aus?«
Der Junge zuckte gleichgültig die Achseln.
»Eben wie eine Schwester.«
Die Kinder schienen nun das Interesse zu verlieren und huschten davon zu der Schwester, die auf der Rohrflöte spielte.
Tief in Gedanken ging Fidelma mit Aibnat zurück zum Haus, wo Molua inzwischen den Tisch gedeckt hatte. Aibnat schien völlig verwirrt von dem Gespräch, stellte Fidelma aber keine Fragen. Der war das Schweigen willkommen, denn sie wollte über das Gehörte nachdenken. Als sie eintraten, blickte Cass auf und sah Fidelmas ratlose Miene.
»Hast du herausbekommen, was du wolltest?« fragte er heiter.
»Ich weiß nicht genau, was ich herausfinden wollte«, antwortete sie. »Aber ich habe wieder etwas dazugelernt. Im Augenblick ergibt es allerdings noch keinen Sinn. Überhaupt keinen.«
Die Mahlzeit, die Aibnat und Molua für sie bereitet hatten, war durchaus mit den Festessen zu vergleichen, an denen Fidelma in manchem Bankettsaal von Königen teilgenommen hatte. Sie mußte sich zwingen, nur mäßig zuzugreifen, denn sie dachte an den zehn Meilen langen Ritt zurück nach Ros Ailithir, der mit einem vollen Magen dem Körper nicht guttäte. Cass hingegen genoß das Mahl in vollen Zügen und trank noch mehr von dem kräftigen cuirm.
Aibnat bediente sie schweigend, während Molua sich entschuldigte, er habe noch etwas zu erledigen.
Als Molua ihre Pferde herausführte, stellten sie fest, daß er sie getränkt, gefüttert und gestriegelt hatte.
Fidelma bedankte sich vielmals bei Aibnat und Mo-lua für ihre Gastfreundschaft und schwang sich in den Sattel.
Sie segnete ihre Gastgeber, dann machten sie sich mit Cass auf den Rückweg nach Ros Ailithir.
»Was hast du erfahren, Fidelma?« fragte Cass, als sie den Fluß an der Furt durchquert hatten und die bewaldeten Hügel hinaufritten, die die breite Landzunge krönten.
»Ich habe herausbekommen, Cass, daß Cetach und Cosrach erst vor ein paar Wochen nach Rae na Scrine gebracht wurden und bei Schwester Eisten wohnten. Sie sind die Söhne Illans.«
»Aber der Mönch in Sceilig Mhichil sagte doch, daß Illans Söhne kupferrotes Haar hätten wie die beiden Mädchen.«