»Haare kann man färben«, bemerkte Fidelma. »Außerdem wurden sie mehrmals von jemandem aus Ros Ailithir besucht. Cosrach rühmte sich Tressach gegenüber, daß der Mann ein Gelehrter sei. Cetach und Cosrach redeten ihn mit aite an!«
Cass sah sie verblüfft an.
»Wenn dieser Mann ihr Vater war, dann können sie doch nicht die Söhne Illans sein. Illan kam vor einem Jahr ums Leben.«
»Aite kann auch Pflegevater bedeuten«, erklärte ihm Fidelma.
»Vielleicht«, gab Cass widerstrebend zu. »Aber was heißt das und wie fügt es sich in das Rätsel der beiden Morde ein?«
»Wenn ich das wüßte«, seufzte Fidelma. »Der Mann wurde gelegentlich von einer Schwester begleitet. Es gibt hier einen Weg, der zu Intat führt! Und wir wissen, daß Intat Salbachs Werkzeug ist. Alles bildet einen Kreis; wenn wir nur wüßten, wie wir hineingelangen.«
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen.
Sie waren noch keine zwei Meilen geritten und überquerten gerade die Hügelkuppe, als Cass über die Schulter zurückblickte und einen Ruf der Überraschung ausstieß.
»Was ist?« fragte Fidelma, drehte sich im Sattel um und folgte seinem Blick.
Cass brauchte nicht zu antworten.
Eine riesige schwarze Rauchsäule stieg in den blaßblauen kalten Herbsthimmel hinter ihnen auf.
»Das ist doch die Richtung von Moluas Hof, nicht wahr?« fragte Fidelma mit klopfendem Herzen.
Cass hob sich in den Steigbügeln, ergriff einen überhängenden Ast und kletterte mit einer Geschicklichkeit in den Wipfel des Baumes, die Fidelma überraschte.
»Was siehst du?« rief sie und spähte in das gefährlich schwankende Astwerk.
»Es ist Moluas Hof. Er scheint in Flammen zu stehen.«
Rasch kletterte Cass den Baum hinunter.
»Das verstehe ich nicht. Es ist ein großer Brand.«
Fidelma kam ein schrecklicher Gedanke.
»Wir müssen zurück!« rief sie und wendete ihr Pferd.
»Aber wir müssen vorsichtig sein«, entgegnete Cass. »Rae na Scrine sollte uns eine Warnung sein.«
»Genau so etwas befürchte ich!« rief Fidelma und jagte bereits auf die Rauchsäule zu. Cass mußte sein Pferd zu vollem Galopp antreiben, um mit ihr mitzuhalten. Er wußte zwar, daß Fidelma zu den Eoganacht gehörte und daß sein jetziger König Colgü ihr Bruder war, doch überraschte es ihn immer wieder, daß eine Nonne so gut reiten konnte. Man hatte den Eindruck, sie wäre im Sattel geboren; sie bildete mit ihrem Pferd eine Einheit. Geschickt lenkte sie es und preschte den Weg entlang, den sie gerade erst zurückgelegt hatten.
Kurz darauf erreichten sie den Kamm des Hügels und sahen die weite Bucht ausgebreitet vor sich liegen.
»Halt!« schrie Cass. »Schnell hinter die Bäume dort!«
Er war dankbar, daß Fidelma ausnahmsweise seinem Befehl sofort und ohne Widerrede gehorchte.
Sie hielten in der Deckung eines Espenwäldchens mit gelben Blättern und dichtem Unterholz.
»Was hast du gesehen?« fragte Fidelma.
Cass zeigte einfach ins Tal hinunter.
Sie erkannte einen Trupp bewaffneter Reiter, die den Holzzaun durchbrachen, der das kleine Anwesen von Molua und Aibnat umgab. Ein vierschrötiger Mann hielt auf seinem Pferd vor den brennenden Gebäuden, als beaufsichtige er das Tun seiner Männer. Es waren etwa ein Dutzend. Sie führten ihr schauriges Geschäft zu Ende und ritten dann durch die Bäume am jenseitigen Ufer des Flusses davon. Der vierschrötige Reiter, offensichtlich ihr Anführer, warf noch einen abschließenden Blick auf die Brandstelle und galoppierte ihnen nach.
Fidelma brach plötzlich in einen Schrei ohnmächtiger Wut aus. Sie hatte gehört, wie Salbach, als er von der Holzfällerhütte fortritt, sagte: »Ich glaube, ich weiß, wo sie sich verstecken . Ich gebe dir meine Anweisungen für Intat.« Sie hatte es gehört und nicht verstanden. Sie hätte es begreifen müssen. Sie hätte verhindern können . Etwas in ihrem zornerfüllten Gemüt sagte ihr, daß dies der zweite schwere Fehler war, den sie begangen hatte.
»Wir müssen dort hinunter!« rief Fidelma wütend. »Sie könnten verletzt sein.«
»Warte noch«, fuhr Cass dazwischen. »Warte, bis die Mörder fort sind.«
Sein Gesicht war grau geworden, sein Kinn schob sich vor, seine Muskeln spannten sich. Er wußte schon, was sie vorfinden würden in dem Inferno, das einst ein blühender Bauernhof gewesen war.
Fidelma trieb jedoch bereits ihr Pferd aus der Dek-kung und preschte den Hügel hinunter.
Cass schrie ihr etwas nach, erkannte aber, daß sie nicht auf ihn hören würde trotz der Gefahr, die von den Angreifern drohen könnte. Er zog sein Schwert und jagte ihr hinterher.
Fidelma galoppierte den Hügel hinab und durch die Furt, daß es nur so spritzte, und brachte ihr Pferd erst vor den Gebäuden zum Stehen.
Sie sprang aus dem Sattel, hielt sich den Arm vors Gesicht zum Schutz gegen die Hitze und lief auf die brennenden Gebäude zu.
Die ersten Leichen, die sie sah, waren die von Aibnat und Molua. Ein Pfeil hatte Aibnat die Brust durchbohrt, und Moluas Kopf war von einem Schwerthieb fast vom Körper getrennt worden. Ihnen war nicht mehr zu helfen.
Dicht daneben erblickte sie die erste Kinderleiche. Cass war inzwischen ebenfalls herangeritten und vom Pferd gestiegen. Er hielt sein Schwert gezogen in der Hand und sah sich aufmerksam um, in seinen Augen spiegelte sich der Schrecken.
Eine der beiden Nonnen, die Schwester Aibnat bei der Betreuung der Kinder geholfen hatten, war gegen die Tür des Bethauses gesunken. Fidelma sah mit Entsetzen, daß sie von einer Lanze gehalten wurde, die man ihr durch den Leib gerannt hatte und die sie an der Holztür festnagelte. Ihr zu Füßen lagen ein halbes Dutzend kleine Leichen, ein paar Kinderhände waren noch in ihren Rock gekrallt. Die Kinder waren entweder erstochen worden, oder man hatte ihnen die kleinen Köpfe eingeschlagen.
Fidelma kämpfte gegen den überwältigenden Drang, sich zu übergeben. Sie wandte sich ab, konnte aber die Galle nicht mehr zurückhalten, die ihr in die Kehle stieg.
»Tut ... tut mir leid«, murmelte sie, als sie Cass’ tröstenden Arm auf der Schulter spürte.
Er sagte nichts. Es gab nichts dazu zu sagen.
Fidelma hatte schon oft in ihrem Leben gewaltsam Getötete gesehen, aber noch nichts so Schreckliches, so Erschütterndes wie die Leichen dieser kleinen Kinder, die sie noch vor wenigen Augenblicken so fröhlich und glücklich hatte zusammen singen und spielen sehen.
Sie bemühte sich, ihren Ekel zu unterdrücken, sich zusammenzunehmen und weiter zu suchen.
Die Leiche der anderen Glaubensschwester, die Flöte gespielt hatte, befand sich unter dem Baum, unter dem Fidelma sie sitzen gesehen hatte; die Flöte war zerbrochen und lag nahe ihrer ausgestreckten leblosen Hand, anscheinend vom Fuß eines irrsinnigen Mörders zertreten. Weitere Kinderleichen umgaben sie.
Die Gebäude brannten jetzt lichterloh.
»Cass.« Fidelma konnte nur mit Mühe reden. »Cass, wir müssen die Leichen zählen. Ich möchte wissen, ob alle Kinder aus Rae na Scrine darunter sind ... ob jeder aufzufinden ist.«
Cass nickte.
»Der kleine Junge ist dabei«, sagte er leise. »Er liegt da drüben. Ich schaue nach den Mädchen.«
Fidelma ging zu der Stelle, auf die Cass gezeigt hatte, und fand die entstellte Leiche Tressachs. Sein Kopf war von einem Hieb gespalten. Doch er lag da wie schlafend, einen Arm locker ausgestreckt, die andere Hand umklammerte fest sein Holzschwert.
»Armer kleiner Krieger«, flüsterte Fidelma, kniete nieder und streichelte das blonde Haar des Kindes.
Nach einer Weile kam Cass zurück. Er blickte noch finsterer drein als zuvor. Das sagte genug.
»Wo sind sie?« fragte Fidelma.
Cass wies mit dem Daumen nach hinten.
Fidelma erhob sich und ging um das Bethaus herum. Die beiden Mädchen mit dem kupferroten Haar, Cera und Ciar, hielten sich umschlungen, als wollten sie sich gegenseitig vor dem grausamen Schicksal schützen, das mitleidslos ihre Schädel zertrümmert hatte.