Mit bleichem Gesicht stand Fidelma da und starrte auf den einst so idyllischen Bauernhof, den Aibnat und Molua in ein Waisenhaus umgewandelt hatten.
Tränen füllten ihre Augen und liefen ihr über die Wangen.
»Zwanzig Kinder, drei Nonnen, einschließlich Schwester Aibnat, und Bruder Molua«, berichtete Cass. »Alle tot. Das ist so sinnlos!«
»Es ist das Böse«, erklärte Fidelma. »Aber auch dahinter werden wir irgendeinen pervertierten Sinn entdecken.«
»Wir sollten nach Ros Ailithir zurückkehren, Fidelma.« Cass machte sich sichtlich Sorgen. »Wir können hier nicht bleiben, möglicherweise taucht diese Barbarenhorde noch einmal auf.«
Fidelma wußte, daß er recht hatte, doch sie konnte es sich nicht versagen, die Leiche des kleinen Tressach neben die Kapelle zu schaffen, so daß er mit den beiden kleinen Mädchen aus Rae na Scrine zusammen lag. Dann sprach sie ein Gebet über sie, und danach wandte sie sich um und sprach ein Gebet über alle, die auf Moluas Bauernhof den Tod gefunden hatten.
Am Tor hielt sie noch einmal an und blickte auf Moluas Leiche. »Gab es einen gerechtfertigten Grund für ihr Tun in den Köpfen der Leute, die diese Untat verübt haben?« flüsterte sie. »Armer Molua. Wir werden nie wieder miteinander philosophieren können. Wart ihr bloß Tiere, die von der schrecklichen Pflugschar vom Feld vertrieben wurden um irgendeiner geheimnisvollen höheren Absicht willen?«
»Fidelma!« In Cass’ Stimme schwang Angst mit, Angst um ihre Sicherheit. »Wir müssen hier weg!«
Sie bestiegen ihre Pferde und entfernten sich von der Stätte des Todes.
»Ich kann einfach nicht glauben, daß es solche barbarischen Menschen in diesem Lande gibt«, sagte Cass, als sie auf dem Kamm des Hügels anhielten und auf den brennenden Hof zurückschauten.
»Ja, wirklich barbarisch!« Fidelmas Stimme war wie eine Peitsche. »Ich sage dir, Cass, hier ist eine böse Macht am Werk, und ich schwöre bei den kleinen Leichnamen da unten, daß ich nicht ruhen werde, bis ich sie unschädlich gemacht habe.«
Cass erschauerte bei der Heftigkeit ihrer Worte.
Kapitel 17
»Wohin jetzt schon wieder, Schwester?« fragte Cass, als Fidelma ihr Pferd nicht auf den Weg zur Abtei von Ros Ailithir lenkte, sondern weiter nach Westen ritt.
»Zurück zu Salbachs Burg«, erwiderte Fidelma. »Wir werden ihm diese neue Greueltat vorhalten.«
»Das könnte gefährlich werden, Schwester«, wandte Cass ein. »Du sagst, Intat sei Salbachs Gefolgsmann. Wenn das so ist, dann hat Salbach selbst dieses Verbrechen befohlen.«
»Salbach ist immer noch der Fürst der Corco Loig-de. Er wird es nicht wagen, sich an einer dalaigh bei Gericht und Schwester seines Königs zu vergreifen!«
Cass gab keine Antwort. Seiner Ansicht nach hatte Salbach mit der Billigung von Intats Gewalttat bewiesen, daß ihm seine Ehre und sein Eid als Fürst gleichgültig waren. Wenn er das Hinschlachten von unschuldigen Kindern, Männern und Frauen befohlen hatte, dann würde er auch nicht zögern, jeden anderen zu beseitigen, der eine Bedrohung für ihn darstellte. Erst nachdem sie den Weg nach Cuan Doir ein ganzes Stück geritten waren, wagte er einen Vorschlag: »Wäre es nicht besser, wir würden warten, bis dein Bruder Colgü mit seiner Leibwache eingetroffen ist, und Sal-bach dann verhören?«
Fidelma schwieg. Sie war entschlossen, Intat zur Strecke zu bringen. Wenn Salbach Intat deckte, dann mußte er eben auch fallen. In ihrem Zorn verschloß sie sich der Logik, war sie nicht in der Lage, innezuhalten und nachzudenken.
Cuan Doir schien so friedlich wie immer, als sie direkt auf den Eingang zu Salbachs Burg zuritten. Es war nicht vorstellbar, daß einen kurzen Ritt entfernt ein ganzer Bauernhof und über zwanzig Menschen, Erwachsene und Kinder, niedergemacht worden waren.
Die Torwächter waren noch dieselben. Sie standen gelangweilt gegen die Torpfosten gelehnt da. Wieder sagte einer von ihnen, Salbach sei nicht in der Burg, aber diesmal blinzelte er Fidelma vielsagend zu.
»Wahrscheinlich ist er wieder auf der Jagd im Wald, Schwester.«
Fidelma bezwang ihren hochkochenden Zorn.
»Damit du’s weißt, Krieger, ich bin eine dalaigh bei Gericht. Außerdem bin ich die Schwester von König Colgü von Cashel«, erwiderte sie so ruhig, wie es ihr möglich war.
Die Torwächter wurden unsicher und nahmen Haltung an.
»Das ändert nichts an meiner Antwort, Schwester«, verteidigte sich der erste. »Du kannst absitzen und selbst in den Hallen von Cuan Doir nach Salbach suchen, du wirst ihn nicht finden. Vor einer Weile war er hier, aber er ist wieder in den Wald von Dor geritten.«
»Wann war das?« fragte Cass.
»Vor wenigen Minuten. Ich nehme an, er hatte eine Verabredung in der Holzfällerhütte. Mehr weiß ich nicht.«
Fidelma winkte Cass, ihr zu folgen.
»Wieder zur Holzfällerhütte?« rief Cass.
»Dort fangen wir an«, stimmte ihm Fidelma zu. »Salbach sucht anscheinend nach Grella.«
In scharfem Trab verfolgten sie den Weg nach Norden in den Wald, durchquerten den Fluß an der Furt und wandten sich dann zu der kleinen Hütte auf der Lichtung. Sie brauchten nicht lange dazu. Fidelma machte sich diesmal nicht die Mühe, sich zu verstek-ken. Sie ritt geradewegs auf die Hütte zu und hielt davor an.
»Salbach von den Corco Loigde! Bist du dort drin?« rief sie, ohne abzusitzen. Sie erwartete keine Antwort, denn Salbachs Pferd war nirgends zu sehen.
Schweigen.
Cass schwang sich vom Pferd, zog sein Schwert und ging vorsichtig auf die Hütte zu. Er stieß die Tür auf und verschwand im Inneren.
Einen Augenblick später kam er zurück, das Schwert noch in der Hand.
»Keine Spur von einem Menschen«, berichtete Cass verärgert. »Was nun?«
»Sehen wir uns in der Hütte um«, antwortete Fidelma. »Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wo Salbach sein könnte.«
Fidelma stieg ab. Sie banden ihre Pferde an und gingen in die Hütte. Sie sah unverändert aus.
»Ich glaube nicht, daß Salbach weit weg ist«, murmelte Fidelma. »Wenn er herausgefunden hat, daß wir Grella in die Abtei gebracht haben, und ihm viel an ihr liegt, dann ist er vielleicht dorthin geritten, um ihre Freilassung zu verlangen.«
Cass wollte gerade antworten, als sie Hufschlag vor der Hütte vernahmen. Cass ging zur Tür, doch bevor er sie erreichte, wurde sie aufgerissen. Ein stämmiger, rotgesichtiger Mann mit einem stählernen Helm und einem pelzbesetzten Wollmantel trat ihm entgegen. Er trug eine goldene Amtskette und hatte sein Schwert gezogen; hinter ihm standen drei weitere Krieger. Seine Augen leuchteten triumphierend auf, als er Cass und Fidelma erblickte. Sein Bild hatte sich Fidelma fest ins Gedächtnis gebrannt. Es war Intat.
»Nanu!« rief er und lachte vergnügt, »da haben wir ja die Störenfriede. Und wo ist Salbach?«
»Nicht hier, wie du siehst«, erwiderte Cass ruhig.
»Nicht hier?« Intat sah sich um, als wolle er sich vergewissern. »Ich habe ihm doch gesagt ...«, begann er, schloß aber plötzlich den Mund und starrte sie von der Schwelle her drohend an.
»Es ist also weiter niemand hier als ihr beide?«
Fidelma stand ruhig da und betrachtete den Mann aus zusammengekniffenen Augen.
»Wie du siehst, Intat. Steck dein Schwert ein. Ich bin eine dalaigh bei Gericht und Schwester deines Königs Colgü. Steckt eure Waffen ein und kommt mit nach Ros Ailithir.«
Die Augen des rotgesichtigen Mannes weiteten sich wie vor Erstaunen. Er drehte sich halb zu den Männern um, die draußen vor der Hütte standen.
»Hört ihr, was sie sagt?« Er lachte mißtönend. »Sie sagt, wir sollen unsere Waffen niederlegen. Paßt auf, Männer, denn dieses kleine Mädchen ist eine mächtige dalaigh bei Gericht und zugleich eine Nonne. Ihre Worte verwunden und erledigen uns, wenn wir uns nicht in acht nehmen.«