Intats Pferd bäumte sich, mit den Vorderhufen in der Luft, schon beinahe über ihr. Der vierschrötige Krieger sprang aus dem Sattel und stand im flachen Wasser vor ihr, beide Hände am Schwertgriff.
»So, dalaigh, du hast mir genug Ärger gemacht. Jetzt ist Schluß damit.«
Er hob das Schwert.
Fidelma zuckte zusammen, riß unwillkürlich die Arme zur Abwehr hoch und schloß die Augen.
Sie hörte Intat schwer aufstöhnen, und als nichts geschah, öffnete sie die Augen wieder.
Intat starrte sie blicklos an. Er stand taumelnd vor ihr. Dann sackte er langsam zusammen. Da erst sah sie die beiden Pfeilschäfte in seiner Brust stecken. Das Schwert entglitt seinen Händen, und er fiel vornüber ins Wasser.
Mit einem Schrei, der mehr der Ausbruch ihrer aufgestauten Erregung war als ein Hilferuf, kletterte sie rasch das schlammige Ufer hinauf.
Pferde tänzelten um sie herum, und sie stellte sich der neuen Bedrohung entgegen.
»Fidelma!« rief eine vertraute Stimme.
Ungläubig sah sie, wie ihr Bruder sich aus dem Sattel schwang und mit ausgestreckten Armen auf sie zulief.
»Colgü!«
Er umarmte sie stürmisch, hielt sie dann auf Armeslänge ab und betrachtete sie mit besorgten Blicken. Als er sah, daß sie unverletzt war, grinste er spöttisch.
»Wie ist das nun mit der Schwester, die sagte, sie könnte selbst auf sich aufpassen?«
Sie strich sich die Tränen der Erleichterung aus den Augen. Auf der anderen Seite des Flusses hatten einige Männer der Leibgarde Colgüs den Gefolgsmann In-tats eingefangen.
»Ihr seid gerade im richtigen Augenblick gekommen«, sagte sie stockend. »Wie habt ihr das gemacht?«
Colgü verzog das Gesicht und wies auf einen Trupp von etwa dreißig Berittenen unter seinem Banner.
»Wir sind auf dem Wege nach Ros Ailithir zu der Ratsversammlung, die der Großkönig einberufen hat. Meine Späher sahen, wie du verfolgt wurdest, und wir schritten ein. Aber wo ist Cass? Ich gab ihm den Auftrag, dich zu beschützen.«
»Cass ist dahinten im Wald in einer Holzfällerhütte«, antwortete Fidelma besorgt. »Er wollte versuchen, unsere Angreifer aufzuhalten, während ich entkam und Hilfe aus Ros Ailithir holen wollte. Wir müssen sofort zu ihm. Er kämpfte mit Intat.« Sie zeigte auf den Körper, der nun im flachen Wasser lag. »Wir müssen uns beeilen, denn er könnte verwundet sein.«
Colgüs Gesicht wurde ernst.
»Gut. Unterwegs mußt du mir erklären, was sich hier abspielt. Wer ist ... wer war dieser Intat?«
Einer von Colgüs Männern hatte Intats Körper aus dem Fluß gezogen und beugte sich über ihn.
»Der Mann lebt noch, Mylord«, rief der Krieger. »Aber wohl nicht mehr lange.«
Fidelma ging zu dem schlammigen Ufer, wo der Krieger nun Intats Kopf und Schultern hielt. Sie hockte sich neben ihm hin und nahm den Kopf in beide Hände.
»Intat!« rief sie laut. »Intat!«
Die dunklen Augen des Mannes öffneten sich, doch sie zeigten kein Erkennen.
»Du stirbst, Intat. Willst du in Sünde sterben?«
Er antwortete nicht.
»Wer hat dir befohlen, die Kinder hinzuschlachten?«
Er gab keine Antwort.
»War es Salbach? Gab er den Befehl?«
Sie sah, wie seine Lippen sich bewegten, und beugte sich vor, um seine letzten Worte hören zu können.
»Ich ... ich treffe ... treffe dich ... in der ... Hölle!«
Sein Körper zuckte plötzlich krampfhaft und lag dann still. Colgüs Krieger zog die Achseln hoch und schaute Fidelma an.
»Tot«, sagte er lakonisch.
Fidelma erhob sich. Ihr Bruder reichte ihr die Hand und half ihr die Uferböschung hinauf.
»Weshalb hast du ihn nach Salbach gefragt?« erkundigte er sich neugierig. »Was geht hier vor?«
»Intat war einer von Salbachs Gefolgsleuten.«
»War Salbach für das hier verantwortlich?«
Fidelma wies auf den gefangenen Gefolgsmann In-tats.
»Laß ihn von deinen Leuten verhören. Ich bin sicher, daß er Salbach in dieser Angelegenheit belasten wird. Wir müssen jetzt schnellstens Cass suchen.«
Colgü ließ sich von einem seiner Männer einen trockenen Mantel geben und legte ihn Fidelma um die Schultern. Sie zitterte vor Kälte und Nässe und wohl auch vor nervlicher Erschöpfung. Colgü half ihr aufs Pferd und erteilte Befehle. Als alle aufgesessen waren, überschritten Colgü und seine Leibgarde mit ihrem Gefangenen den Fluß auf der Furt. Sie folgten dem Weg in den Wald nördlich von Cuan Doir. Unterwegs erklärte Fidelma ihrem Bruder, was vorgefallen war.
»Und wie hängt das alles mit dem Mord an Dacan zusammen?« wollte Fidelmas Bruder wissen.
»Im einzelnen ist mir das noch nicht klar, doch du kannst mir glauben, daß da eine Verbindung besteht. Und das werde ich auch vor der Ratsversammlung des Großkönigs so darlegen.«
»Du weißt, daß die Versammlung in den nächsten Tagen zusammentritt? Wahrscheinlich sobald wir in Ros Ailithir eintreffen. Ich habe gehört, daß der Großkönig schon dort ist und daß die Schiffe Fiana-mails von Laigin vor der Küste gesichtet wurden.«
»Brocc hat mich schon darauf vorbereitet«, bestätigte Fidelma.
Colgü sah alles andere als glücklich aus.
»Wenn du darlegst, daß Salbach an dem Mord an Dacan beteiligt war oder dafür die Verantwortung trägt, dann können wir auch gleich sagen, daß Laigins Forderung an uns nach einem Sühnepreis gerechtfertigt ist. Salbach ist ein Fürst von Muman und untersteht Cashel.«
»Vorläufig sage ich noch gar nichts, Bruder«, erwiderte Fidelma entschieden. »Ich will die Wahrheit herausbekommen, wie immer sie auch aussieht.«
Sie erreichten die Holzfällerhütte. Intats zweiter Gefolgsmann lag noch bewußtlos unter den Trümmern des Holzfasses, gegen das ihn Fidelma geschleudert hatte. Er kam gerade langsam zu sich.
Cass’ Pferd stand nach wie vor angebunden vor der Hütte, wie Fidelma voller Angst feststellte.
Zwei Männer aus Colgüs Leibgarde saßen sofort ab und liefen mit gezogenen Schwertern in die Hütte.
Einer von ihnen kam schon einen Augenblick später mit düsterer Miene wieder heraus.
Fidelma wußte, was das Miene zu bedeuten hatte.
Sie glitt vom Pferd und eilte hinein.
Cass lag auf dem Rücken. Ein Pfeil steckte in seinem Herzen und einer in seinem Hals. Seine Angreifer hatten ihm nicht einmal die Ehre gewährt, sich wie ein Krieger zu verteidigen. Er hatte nur sein Schwert, doch sie hatten ihn von der Tür her niedergeschossen. Nun lag er da mit offenen Augen, die leer in die Höhe starrten.
Fidelma beugte sich nieder und schloß die blicklosen Augen in seinem schönen Gesicht.
»Er war ein guter Mensch«, sagte Colgü leise. Er stand nun hinter ihr und schaute hinunter.
Fidelmas Schultern zuckten leicht.
»Gute Menschen werden so oft von bösen umgebracht«, murmelte sie. »Ich wünschte, er hätte es noch erlebt, wie diese Sache geklärt wird.«
Sie stand auf und ballte die Fäuste in ihrem Kummer. Sie wandte ihrem Bruder ihr trauriges Gesicht zu, konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Ihre innere Stimme sagte ihr, daß sie einen dritten Fehler begangen hatte. Ihre Eitelkeit hatte Cass den Tod gebracht. Sie hatte drei Fehler gemacht, mehr durfte sie sich nicht leisten.
»Er starb, als er mich verteidigte, Colgü«, sagte sie leise.
Ihr Bruder neigte den Kopf.
»Ich glaube, so einen Tod hätte er sich gewünscht, kleine Schwester. Da sein Bemühen nicht vergeblich war, wird seine Seele Frieden finden. Sein Tod wird dich doch nicht daran hindern, die Untersuchung weiterzuführen?« fügte er besorgt hinzu.
»Nein«, erwiderte Fidelma fest. »Der Tod verhindert viele Dinge, doch nie den Sieg der Wahrheit. Seine Seele wird in Frieden ruhen, denn ich glaube, ich bin nun der Wahrheit nahe, die sich mir so lange entzogen hat.«