Fidelma setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Zelle. Salbach runzelte die Stirn, beeindruckt von ihrem sicheren Auftreten, und blieb mit gespreizten Beinen und gekreuzten Armen vor ihr stehen. Er sagte nichts, während sie ihn prüfend musterte. Sie empfand Ekel vor einem Mann, der ohne Skrupel den Mord an Kindern befehlen konnte.
»Grella muß wohl völlig in dich vernarrt sein, Sal-bach, wenn sie die Maske nicht durchschaut, die du für sie trägst«, meinte sie schließlich.
Einen Moment schien Salbach verwirrt, dann hatte er sich wieder gefangen.
»Bist du sicher, daß ich eine Maske für sie trage? Bist du sicher, daß sie nur berauscht ist, oder kannst du dir möglicherweise vorstellen, daß sie mich liebt und ich sie liebe?«
Fidelma machte ein angewidertes Gesicht.
»Liebe? Weißt du überhaupt, was das ist? Für ein Gefühl wie Liebe ist kein Platz im Herzen eines Menschen, der in der Lage ist anzuordnen, daß Kinder derart leiden.«
Aber möglich ist ja alles, dachte Fidelma dann. Vielleicht empfand Salbach doch so etwas Ähnliches wie Liebe für die schöne Bibliothekarin von Ros Ailithir.
»Willst du mich etwa für Intats Verbrechen verantwortlich machen?« fragte Salbach empört.
»Ja. Du solltest eigentlich wissen, wenn du Söldner anheuerst, daß ihre Treue nicht ihrem Fürsten, sondern seinem Geld gehört. Intats eigene Leute bezeugen deine Anführerschaft.«
Salbach verzog keine Miene.
»Und wenn ich sage, sie lügen?«
»Dann mußt du das vor der Ratsversammlung beweisen. Das dürfte dir schwerfallen. Ich jedenfalls weiß, daß die Leute nicht lügen, genauso wie du weißt, daß sie die Wahrheit sagen.«
Salbach lachte bitter.
»Überlassen wir das der Entscheidung der Ratsversammlung des Großkönigs. Dann steht mein Wort als das des Fürsten der Corco Loigde. Mein Wort und meine Ehre. Und jetzt werde ich schweigen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Fidelma erhob sich und warf einen raschen Blick auf ihren Bruder. Sie bemerkte die Enttäuschung in seinen Augen.
»Ich habe nicht mehr erwartet, Salbach. Wir sehen uns morgen vor Gericht. Aber vorher solltest du dir alles noch einmal gut überlegen, denn du bist verurteilt durch das Zeugnis der Männer, die du bezahlt hast. Ich gebe dir einen Spruch des Sokrates zum Nachdenken: >Falsche Worte sind nicht nur übel an sich, sondern sie stecken die Seele mit dem Übel an.< Wie angesteckt ist deine Seele vom Übel, Salbach?«
»Er gibt absolut nichts zu«, sagte Colgü, als sie draußen waren. »Wenn er das nicht tut, was dann? Selbst wenn du ihm seine Schuld nachweist, kann nicht Laigin trotzdem noch Cashel verantwortlich machen?«
»Ich hoffe, ich kann das Bild noch vervollständigen, bevor die Versammlung zusammentritt«, antwortete Fidelma. »Jetzt brauche ich etwas Ruhe. Morgen wird ein langer Tag, und ich habe vieles zu bedenken.«
Es war lange nach der Completa, als Fidelma aus dem Schlaf auffuhr. Sie lag noch vollständig angezogen auf ihrem Bett in dem dunklen Zimmer, so wie sie eingeschlafen war. Geweckt hatte sie ein Gedanke, der ihr plötzlich gekommen war. Sie stand auf und verließ leise das Gästehaus.
Fidelma ging in die Abteikirche, die in völliger Dunkelheit lag. Nach dem letzten Gottesdienst des Tages waren alle Lichter gelöscht worden. Sie zündete keine Lampe an, sondern bewegte sich vorsichtig im Dunkeln. Das blasse Mondlicht, das durch die hohen Fenster fiel, half ihr, ihren Weg zu finden. Behutsam näherte sie sich dem Hochaltar, ging um ihn herum und starrte auf die schattenhafte Grabplatte des heiligen Fachtna.
Sie war sich sicher, daß dies der Schlüssel zur endgültigen Lösung des Geheimnisses war, das ihr Gemüt bedrückte.
Sie hatte die Grabplatte schon mehrere Minuten lang betrachtet, als ihr auffiel, das irgend etwas nicht stimmte. Die Platte lag ein wenig schief, lag im Winkel zur Rückwand des Altars. Sie erinnerte sich deutlich, daß sie ursprünglich genau parallel dazu gelegen hatte.
Sie ging in die Knie und drückte dagegen.
Zu ihrer Überraschung bewegte sich die Platte so leicht wie auf einer Gleitbahn. Plötzlich verursachte sie ein lautes Geräusch. Fidelma sah sich vorsichtig um. Im langen finsteren Innern der Kirche war nichts zu erkennen.
Sie ging zum Altar, nahm eine der hohen Talgkerzen herunter und bat Gott um Vergebung für ihre Dreistigkeit, sie von Seinem heiligen Tisch zu entfernen. Dann kehrte sie zu der Platte zurück, zündete die Kerze an und stellte sie auf den Boden. Sie kniete sich wieder hin und schob an der Platte. Sie bewegte sich noch ein Stück und blieb dann wie an einem Hindernis hängen.
Enttäuscht hielt Fidelma einen Augenblick inne. Wahrscheinlich gab es hier einen verborgenen Mechanismus, den sie entdecken mußte.
Sie ging um die Platte herum und schob sie zurück, als wolle sie die Gruft schließen.
In dem Moment wurde ihr die Funktionsweise des Mechanismus klar, denn sie sah, wie sich die kleine Statue des Cherub am Kopfende der Platte bewegte.
Rasch eilte Fidelma zu der Figur, packte sie und drehte sie in die entgegengesetzte Richtung.
Je weiter sie sie drehte, desto weiter wurde die Platte beiseite geschoben und gab eine größere Öffnung im Boden frei. Das flackernde Licht ihrer Kerze fiel auf Treppenstufen.
Sie nahm die Kerze und stieg vorsichtig die Treppe hinunter in die Gruft.
Sie gelangte in eine feucht und modrig riechende Krypta, die etwa sechs Meter unter dem Boden der Kirche lag. Der Raum war einfach, so weit sich das im Licht der Kerze erkennen ließ, und ungefähr zehn Meter lang und fünf Meter breit. Gebaut war er wie eine verkleinerte Nachbildung der großen Kirche darüber, mit einer Steinplattform an einem Ende wie ein Hochaltar. Nur daß es kein Altar war, wie Fidelma feststellte, sondern ein steinerner Sarkophag mit einer Steinplatte als Deckel. Die Inschrift darauf war in Ogham und in lateinischen Buchstaben geschrieben und in Irisch und in Latein abgefaßt. Sie erklärte dem Leser, daß hier Fachtna, der Sohn des Mongaig, ruhte.
Sie entdeckte Kerzenhalter in der Grabstätte und besah sie sich neugierig. Der Talg war nicht kalt, wenn auch nicht mehr knetbar. Die Kerzen hatten gebrannt, und zwar vor noch nicht langer Zeit.
In einer Ecke sah sie ein Bündel Kleider liegen. Bei näherer Betrachtung erkannte sie auch ein paar Dek-ken, als ob jemand in dem Gewölbe geschlafen hätte. Daneben standen ein Krug Wasser und eine Schale mit Obst. Plötzlich fiel ihr auf der Schlafstatt ein Stück Pergament ins Auge.
Ihr war sofort klar, daß dort die Dinge lagen, die aus ihrem marsupium gestohlen worden waren: Der Entwurf Dacans für den Brief an seinen Bruder, der angebrannte Ogham-Stab und einige andere Gegenstände aus der Bibliothek, die sich auf die Familie Il-lan bezogen. Sie lagen dort wie weggeworfen.
Endlich ordneten sich alle Einzelheiten und fügten sich zu einem Bild zusammen. Es war schade, daß Cass das nicht mehr miterlebte.
Ein Geräusch über ihr ließ sie zusammenzucken.
Jemand war am Hochaltar in der Kirche und stand an der offenen Gruft.
Sie erkannte, daß ihr der Rückweg in die Kirche jetzt versperrt war, wenn sie nicht entdeckt werden wollte. Sie ging rasch zu dem Sarkophag, um sich dahinter zu verbergen. Nun konnte sie Stimmen vernehmen.
»Seht euch das an«, hörte sie eine bekannte Stimme. »Ich dachte, ich hätte euch gesagt, ihr sollt die Platte schließen, als wir gingen?«
Eine jüngere Stimme, die sie als Cetachs erkannte, antwortete: »Ich dachte, ich hätte es getan, Bruder. Ich bin sicher, daß ich sie nicht so weit offen gelassen habe, wie sie jetzt ist.«
»Ganz gleich. Geht jetzt runter. Ich komme zur üblichen Zeit und lasse euch raus. Aber verhaltet euch morgen absolut ruhig, denn das Gericht wird direkt über euch tagen. Keinen Ton. Denkt daran, beim Gottesdienst in der vorigen Woche habt ihr beinahe alles verraten. Ein Schrei, und sie finden den Weg hinunter zu euch. Und wenn sie ihn finden, dann werden wir es alle zu bereuen haben.«