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Eine andere Kinderstimme begann schluchzend zu protestieren.

Die Stimme Cetachs ermahnte die jammernde Stimme, die sicherlich Cosrach gehörte.

»Es dauert nicht mehr lange«, sagte die erste Stimme in besänftigendem Ton. »Vater und ich werden euch in den nächsten Tagen von hier fortschaffen können.«

»Kommt Vater mit uns?« fragte Cetachs Stimme.

»Ja. Bald sind wir alle zu Hause in Osraige.«

Fidelma hörte leise Schritte die Treppe herunterkommen. Es war wenig sinnvoll, die Söhne Illans zu diesem Zeitpunkt zu stellen. Sie mußte noch ein paar Verbindungsstücke einpassen, bevor sie das Rätsel vollständig lösen konnte.

Zu ihrer Überraschung fand sie hinter dem Sarkophag eine dunkle Öffnung, und statt ihre Kerze zu löschen, was sie gerade tun wollte, ging sie in die Dunkelheit hinein. Es war ein Gang, der nach mehreren Windungen zu einer Steintreppe führte, die steil emporstieg.

Neugierig folgte sie der Treppe bis zu ihrem Ende ungefähr eineinhalb Meter unter einer Felsdecke. Einen Moment glaubte sie sich in einer Sackgasse, doch dann bemerkte sie eine kleine Öffnung, die sechzig Zentimeter breit und einen Meter lang war. Ein schwacher Lichtschein fiel hindurch. Jetzt löschte sie die Kerze wirklich und sah blasses Mondlicht. Vorsichtig lehnte sie sich durch die Öffnung hinaus.

Vor Überraschung stockte ihr der Atem, als sie erkannte, wo sie war.

Sie befand sich in einem runden Brunnenschacht. Im Halbdunkel entdeckte sie eiserne Sprossen, die sie leicht erreichen konnte. Ein paar Minuten später kletterte sie über die Brüstung des Brunnens in den vom Mondlicht erhellten Kräutergarten hinter der Abteikirche.

Eine kleine Weile saß sie auf der runden Steinwand des Brunnens und lächelte zufrieden.

Nun kannte sie alle wesentlichen Einzelheiten. Jetzt kam es darauf an, sie zu sortieren und richtig zusammenzufügen.

Doch das hatte Zeit bis morgen, bis zur Ratsversammlung.

Kapitel 19

Für die große Ratsversammlung des Großkönigs war die Abteikirche selbst in den Dal, den Gerichtshof, verwandelt worden. Das Gebäude wimmelte von Menschen, geistlichen wie weltlichen, die sich durch die Türen hineindrängten. Der Anlaß galt als bedeutungsvoll, denn seit Menschengedenken hatte kein Großkönig mehr eine Ratsversammlung außerhalb seines persönlichen Herrschaftsbereichs Meath abgehalten. Auf einem eigens errichteten Podium vor dem Hochaltar saß der Oberrichter der fünf Königreiche von Eireann. Er war der einzige, der über so viel Einfluß verfügte, daß selbst der Großkönig in den großen Ratsversammlungen erst sprechen durfte, wenn er gesprochen hatte. Fidelma hatte Barran noch nie gesehen und hätte gern gewußt, was für ein Mensch er war. Barran hatte helle, furchtlose Augen, ein strengen, schmallippigen Mund und eine vorspringende Nase. Sein Alter war völlig unbestimmt.

Links neben ihm auf dem Podium saß sein persönlicher ollamh, ein gelehrter Anwalt, den er in juristischen Fragen konsultieren konnte, und dahinter hatten ein Sekretär und sein Assistent ihren Platz, die das Protokoll führten. Rechts vom Oberrichter saß der Großkönig selbst, Sechnassach, Herr von Meath und Großkönig von Irland. Er war ein hagerer Mann in den Dreißigern mit einem finsteren Gesicht und dunklem Haar. Fidelma wußte von ihren Erlebnissen in Tara, daß Sechnassach nicht der strenge, autoritäre Herrscher war, für den man ihn halten konnte. Er war ein nachdenklicher Mensch mit einem trockenen Humor. Sie fragte sich, ob er sich noch erinnerte, daß er ohne ihre Hilfe bei der Aufdeckung des Diebstahls des Kronschwerts vielleicht gar nicht Großkönig geworden wäre. Dann schämte sie sich für diesen Gedanken. Als könnte persönliche Dankbarkeit den Großkönig zu ihren Gunsten beeinflussen.

Neben dem Großkönig saß Ultan, Erzbischof von Armagh und Oberster Apostel des Glaubens in den fünf Königreichen, ein mürrischer älterer Mann mit wirrem weißem Haar. Er stand im Ruf, die römische Richtung in der Kirche zu unterstützen, und hatte sich wiederholt dafür ausgesprochen, daß das Kirchenrecht das weltliche Recht in den fünf Königreichen ablösen solle.

Unmittelbar vor dieser imponierenden Reihe von Persönlichkeiten war ein kleines Pult in der Art eines cos-na-ddla aufgebaut als eine Rednertribüne, von der aus jeder ddlaigh oder Anwalt sein Plädoyer halten sollte.

Im Querschiff rechts vom Hochaltar waren die Bänke von den Vertretern Laigins besetzt, geführt von ihrem leidenschaftlichen jungen König Fianamail und seinen Ratgebern. Fidelma hatte auch schon den grimmigen, graugesichtigen Abt Noe von Fearna erspäht. Und vorn neben dem König erkannte sie den hageren, blassen Forbassach, der den Anspruch Laigins vortragen würde.

Fidelmas Bruder Colgü und seine Berater füllten die Bänke im Querschiff links vom Hochaltar. Fidelma als ihr dalaigh saß neben ihrem Bruder und wartete darauf, zum cos-na-dala gerufen zu werden, um ihr Plädoyer für das Königreich von Cashel zu halten.

Das breite Längsschiff der Kirche war gedrängt voll von Zuschauern aller Art und jeden Standes. Ihre Menge erzeugte trotz der Größe und der Ausmaße des hohen Gebäudes eine stickige, bedrückende Luft. Fidelma fielen einige Krieger des Großkönigs auf, seine fianna oder Leibwache. Sie waren überall an den wichtigsten Punkten in der Kirche postiert und die einzigen Bewaffneten, die Zutritt zu der Versammlung hatten. Die Krieger Colgüs und Fianamails mußten in ihren Quartieren außerhalb der Mauern der Abtei bleiben.

Barran, der Oberrichter, klopfte mit seinem Amtsstab auf den hölzernen Tisch vor sich und gebot Ruhe. Damit war die Versammlung eröffnet.

Das Stimmengemurmel ebbte langsam ab und machte einer erwartungsvollen Stille Platz.

»Es sei kund und zu wissen, daß es drei Mittel gibt, die Weisheit aus einem Gerichtshof zu verbannen«, sprach der Oberrichter die rituellen Eröffnungsworte. Seine Stimme war tief und mächtig und füllte den gesamten Kirchenraum aus. Seine hellen Augen funkelten, als er sich drohend umsah. »Das erste Mittel ist ein unkundiger Richter, das zweite ist ein Plädoyer ohne Sinn und Verstand, und das dritte ist ein geschwätziger Gerichtshof.«

Darauf erhob sich Erzbischof Ultan langsam und erbat mit seiner dünnen, monotonen Stimme Gottes Segen für das Gericht und seine Verhandlung.

Nachdem Ultan sich wieder gesetzt hatte, rief der Oberrichter die Anwälte beider Seiten auf, sich zu erheben und sich vorzustellen. Als sie das getan hatten, erinnerte er sie an die Verfahrensregeln und an die sechzehn Kennzeichen eines schlechten Plädoyers. Für jeden dieser sechzehn Verstöße konnte ein Anwalt mit einer Geldstrafe von einem sed belegt werden, einer Goldmünze, die dem Wert einer Milchkuh entsprach. Diese Strafe wurde fällig, wenn die Anwälte einander beschimpften, die Zuschauer zur Gewalt anstachelten, sich in Eigenlob ergingen, grobe Worte wählten, den Anordnungen des Gerichts nicht nachkamen oder grundlos das Thema ihres Plädoyers wechselten. Dann erklärte Barran, daß die Verhandlung beginnen könne.

»Denkt daran, daß es drei Türen gibt, durch die die Wahrheit Eingang in dieses Gericht finden kann: ein geduldiges Für und Wider in den Plädoyers, eine gesicherte Beweisführung und das Vertrauen auf Zeugen«, riet Barran den Anwälten dem Brauch gemäß.

Forbassach trat vor an das cos-na-ddla, denn da Laigin Entschädigung für einen Todesfall verlangte, stand ihm das Recht zu, als erster seine Argumente vorzutragen. Er tat es einfach und ohne Theatralik. Der Ehrwürdige Dacan, ein Mann aus Laigin, habe das Gastrecht beim König von Muman genossen, so sagte er, denn dieser habe ihm die Erlaubnis erteilt, sich in seinem Königreich aufzuhalten und in der Abtei Ros Ailithir sowohl zu forschen als auch zu unterrichten. Es liegt in der unmittelbaren Verantwortung des Abts, für die Sicherheit aller zu sorgen, die er in sein Haus aufnimmt.