»Der Kampf um das Königreich Osraige entwickelte sich im vorigen Jahr zu einem Kampf zwischen Scandlan, dem Vetter Salbachs von den Corco Loigde, und Illan, einem Nachkommen der Linie der ursprünglichen Könige. Vor mehr als einem Jahr wurde Illan von Scandlan getötet.«
Diesmal kam die Störung von den Bänken von Muman. Ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht hatte sich mit zorniger Miene erhoben. Mit seiner rotblonden Mähne und seinem buschigen Bart stand er da wie ein in die Enge getriebener Bär.
»Ich verlange das Wort!« rief er. »Ich bin Scandlan, der König von Osraige.«
»Setz dich hin!« Der mächtige Baß des Oberrichters übertönte das Gemurmel, das durch die Kirche lief. »Als König kennst du doch wohl die Verfahrensregeln dieser Ratsversammlung?«
»Mein Name wird besudelt!« protestierte der Fürst. »Habe ich da nicht das Recht, auf die Beschuldigung zu antworten?«
»Bisher hat dich niemand beschuldigt«, erklärte Fidelma. »Was habe ich Verkehrtes gesagt?«
Der Großkönig flüsterte wieder mit dem Oberrichter. Fidelma sah, wie ein Lächeln die Lippen des Großkönigs umspielte.
»Nun gut«, meinte der Oberrichter. »Ich werde Scandlan jetzt eine Frage stellen. König von Osraige, hast du Illan getötet?«
»Natürlich habe ich das«, fuhr der Rotblonde auf. »Es ist mein Recht als König, mich zu verteidigen, und Illan befand sich im Aufstand gegen mich und ...«
Der Oberrichter hob die Hand und gebot Ruhe.
»Demnach hat Schwester Fidelma lediglich die Wahrheit ausgesprochen. Sie hat dir bisher keine niedrigen Motive unterstellt. Wir werden dich später anhören, falls einer der gelehrten Anwälte dich als Zeugen aufruft. Bis dahin wirst du das Verfahren nicht mehr unterbrechen.«
Er sah Fidelma an und gab ihr zu verstehen, sie möge fortfahren.
»Der Tod Illans bedeutete nicht das Ende der Auseinandersetzungen. Illan hatte Nachkommen, die zu dem Zeitpunkt noch nicht das Alter der Wahl erreicht hatten, in dem sie ihre Ansprüche offiziell dem Volk vorlegen konnten. Das Problem bestand darin, daß anscheinend niemand die Nachkommen Illans kannte, es hieß aber, er habe mehrere Kinder. Sie waren alle zu Pflegeeltern außerhalb von Osraige gegeben worden bis zu der Zeit, da der älteste von ihnen mündig würde und sich mit seinem Anspruch an das Volk wenden könnte.
Es gab zwei Personen, die sich für die Erben Illans interessierten. Scandlan war die eine, weil er wußte, daß früher oder später diese Erben ihm das Königtum von Osraige erneut streitig machen würden. Die andere war Fianamail von Laigin. Er meinte, wenn die Erben gefunden und in ihrem Kampf um den Sturz Scandlans unterstützt werden könnten, dann gewänne Laigin Einfluß auf die Zukunft von Osraige und könne es späterhin in seinen Herrschaftsbereich zurückführen.«
Sie legte eine erwartungsvolle Pause ein, aber diesmal gab es keinen Aufruhr.
»Doch die Erben Illans waren verschwunden. Die Frage war, wie man herausfinden könnte, wer sie waren und wo sie sich aufhielten. Ein Weg zu ihrer Entdeckung, so glaubte man, bestünde darin, die Genealogien von Osraige zu untersuchen. Da die Corco Loigde in Osraige herrschten, waren es ihre Schreiber, die die genauen Genealogien und Chroniken verfaßt hatten. Und wo werden diese Genealogien aufbewahrt?«
Fidelma hielt wieder inne und betrachtete die erwartungsvollen Gesichter in der jetzt stillen Abteikirche.
»Sie befinden sich hier, hier in Ros Ailithir.«
Es erhob sich ein Gemurmel, manche begriffen wohl, worauf sie hinauswollte.
»Fianamail von Laigin schickte seinen besten Gelehrten nach Ros Ailithir, um die Genealogien zu studieren mit dem Ziel, den Erben Illans aufzuspüren. Dieser Gelehrte war kein anderer als Dacan, der Bruder des Abts Noe von Fearna und Vetter des Königs Fianamail. Das möge Fianamail unter seinem heiligen Eid bestreiten!«
»Eine Frage!« rief Forbassach. »Ich habe das Recht, eine Frage zu stellen!«
Das gestand ihm der Oberrichter zu.
»Wenn der gegenwärtige König von Osraige so begierig darauf war, die Erben Illans aufzuspüren, wie die Anwältin für Muman behauptet, warum schickte er dann nicht selbst einen Gelehrten, um in den Aufzeichnungen nachzuforschen, die sich hier, auf dem Gebiet seiner eigenen Familie, befinden? Das hätte er doch mit Leichtigkeit tun können.«
»Die einfache Antwort darauf lautet, daß er oder vielmehr seine Familie das auch taten«, erwiderte Fidelma gelassen. »Doch ich habe Fianamail aufgefordert, zu bestreiten, daß Dacan in seinem Auftrag zu diesem Zweck hierher entsandt wurde. Ich erwarte eine Antwort.«
Forbassach wandte sich um und wechselte ein paar hastige Worte mit Fianamail und dem finster blickenden Abt Noe. Der Oberrichter räusperte sich bedeutungsvoll. Forbassach erhob sich und sagte: »Welche Forschungen Dacan auch betrieben haben mag, das ändert nichts an der Tatsache, daß er ermordet worden ist und daß die Verantwortung für seinen Tod beim Abt liegt und in letzter Instanz beim König von Muman.«
Seine Stimme war fest, doch sie klang weniger zuversichtlich als bei seiner Eröffnungsrede.
»Das gilt nicht«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck, »wenn der Zweck von Dacans Aufenthalt hier ein anderer war als der, den er angegeben hatte.«
Diesmal war es der ollamh des Oberrichters, der sich vorbeugte und Barran etwas ins Ohr flüsterte. Der Oberrichter sah Fidelma ernst an.
»Wenn dies die Grundlage deines Gegenplädoyers ist, Schwester Fidelma, dann rät man mir gerade, dich zu warnen, daß deine Verteidigung auf schwachen Füßen steht. Dacan erklärte, er wolle in Ros Ailithir forschen und unterrichten, und unter dieser Bedingung wurde ihm die Gastfreundschaft des Königs von Cashel und des Abts von Ros Ailithir gewährt. Die Tatsache, daß er die genaue Zielrichtung seiner Forschungen nicht angab, schließt ihn nicht vom gesetzlichen Schutz aus. Schließlich stellte er ja Forschungen an.«
»Dem müßte ich widersprechen«, antwortete Fidelma, »aber ich stütze mein Plädoyer ja bekanntlich auf zwei Punkte. Lassen wir den ersten für den Augenblick auf sich beruhen. Ich werde später beweisen, daß ich auch damit die Schuld des Abts und des Königs von Muman zurückweisen kann. Doch zunächst haben wir wichtigere Dinge zu klären, nämlich, wer Dacans Mörder war.«
Wieder begannen die Zuhörer miteinander zu flüstern. Barrans Augen verengten sich, als er sich vorbeugte und durch Klopfen mit seinem Amtsstab Ruhe gebot.
»Willst du damit sagen, daß du ihn kennst?« wollte er wissen.
Fidelma antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln.
»Darauf komme ich gleich. Vorher muß ich noch ein paar andere Dinge erläutern.«
Mit einer ungeduldigen Geste forderte Barran sie zum Weitersprechen auf.
»Wie ich schon sagte, Dacan kam allein mit dem Ziel nach Ros Ailithir, die Genealogie Illans zu erforschen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß seine frühere Ehefrau, Grella aus der Abtei Cealla, hier als Bibliothekarin arbeitete. Er hielt das für einen Glücksfall, denn Grella stammte aus Osraige, und ihre Beziehung zu Dacan hatte nicht in Feindschaft geendet. So erbat Dacan ihre Hilfe, um die Aufzeichnungen zu bekommen, die er brauchte. Sie half ihm gern, weil auch sie daran interessiert war, die Erben Illans zu finden. Leider waren ihre Gründe für dieses Interesse nicht dieselben wie die ihres früheren Gatten.«
Wieder entstand Bewegung in den Bänken hinter Fidelma.
Barran hob den Kopf und forderte Ruhe, während sein ollamh leise auf ihn einredete.
Schwester Grella hatte sich erhoben, ihr Gesicht war gerötet vor Wut und Erregung.
»Schwester Grella, setz dich!« befahl Barran, dessen ollamh sie erkannt hatte.
»Ich setze mich nicht hin, und ich lasse mich nicht beleidigen!« schrie Grella hysterisch, »und ich lasse mich auch nicht zu Unrecht anklagen.«