»Aber wußten die Kinder das?«
Fidelmas Frage war schneidend und rief ein unsicheres Schweigen hervor.
Sie wandte sich Midach zu. Der sonst so fröhliche Arzt stand müde und erschöpft vor ihr.
»Dacan hatte zwei Monate lang in der Abtei seine Nachforschungen betrieben, bevor du erfuhrst, daß er nach deinen Pflegekindern suchte. Als du das entdecktest, bist du sofort aufgebrochen, um sie von Sceilig Mhichil wegzuholen. Du hast die Abtei am selben Abend verlassen, an dem Dacan getötet wurde, an dem Abend, an dem er seinem Bruder Noe schrieb, er wolle nach Sceilig Mhichil reisen.«
Barran schaltete sich ein und meinte Fidelma zuvorzukommen.
»Hast du Dacan getötet, Bruder Midach?«
»Dacan war am Leben, als ich die Abtei verließ«, erwiderte Midach mit leiser, aber fester Stimme.
»Das stimmt«, bestätigte Fidelma rasch. Der Oberrichter hob abwehrend die Hand.
»Woher willst du das wissen?«
»Ganz einfach. Wir wissen, daß Dacan gegen Mitternacht getötet wurde, bestimmt nicht früher. Mi-dach mußte gleich nach der Vesper an Bord seines Schiffes sein, damit es mit der abendlichen Ebbe nach Sceilig Mhichil auslaufen konnte. Ich habe die Gezeiten von den Seeleuten hier nachprüfen lassen. Wäre er länger hiergeblieben, hätte er erst am folgenden Morgen abreisen können.«
»Wer hat dann Dacan umgebracht?« Barran war völlig ratlos.
»Jemand, der wie Midach glaubte, daß Dacan den Kindern Illans Schaden zufügen wollte.«
Es herrschte Schweigen, denn jedem war klar, daß die lange Verhandlung nun der Enthüllung des Mörders zustrebte.
Fidelma war überrascht, daß niemand zu derselben Schlußfolgerung kam, die sie schon einige Zeit zuvor gezogen hatte. Als keiner sprach und keiner sich regte, sagte sie: »Nun - wer sonst als die Kinder Illans würde sich von Dacan bedroht fühlen? Wer sonst als der älteste Sohn, der stärker bedroht war als seine Brüder?«
Jeder blickte Cetach an.
»Aber du hast doch gerade gesagt, daß diese beiden Jungen zu der Zeit noch auf Sceilig Mhichil waren, also zwei bis drei Tage Schiffsreise von Ros Ailithir entfernt«, wandte Barran ein.
»Ich habe nicht gesagt, daß es einer dieser beiden Jungen war«, sagte Fidelma laut in das Stimmengewirr hinein.
Wieder wirkten ihre Worte wie ein Wasserguß auf Feuer. Verblüfftes Schweigen trat ein.
»Aber du hast doch gesagt ...«, begann der Oberrichter.
»Ich sagte, daß der älteste Sohn Illans Dacan umbrachte.«
»Dann ...?«
»Illan hatte drei Söhne. Ist es nicht so, Midach? Da-can schrieb in dem Brief an seinen Bruder, daß Illans ältester Sohn gerade das Alter der Wahl erreicht habe. Das schließt diese beiden Jungen aus, die bei weitem noch nicht siebzehn sind. Und es bedeutet auch, daß Illan noch einen dritten Sohn hatte.«
»Du scheinst alles zu wissen, Fidelma«, knurrte Midach grimmig. »Ja, mein Vetter Illan hatte drei Söhne. Sie alle wurden mir in Pflege gegeben, als Illan getötet wurde. Die beiden jüngeren waren bereits nach Sceilig Mhichil zu unserem Vetter Mel geschickt worden. Es stimmt, alles hat sich so ereignet, wie du es beschrieben hast.«
»Und wo ist der älteste Sohn?« wollte Barran wissen.
»Ich kann das Vertrauen meiner Familie nicht brechen«, sagte Midach.
»Der älteste Sohn wurde nach Ros Ailithir gebracht, aber unter falschem Namen«, schaltete sich Fidelma ein.
Sie wandte sich um, und ihr Blick suchte die Reihen der Nonnen ab, die dicht gedrängt in der Abteikirche saßen, bis er die weiße Maske entdeckte, in die sich das Gesicht von Schwester Necht verwandelt hatte.
»Komm nach vorn, Schwester Necht, oder sollte ich lieber Nechtan sagen?« fügte Fidelma hinzu und benutzte die männliche Form des Namens.
Die unbeholfene »Schwester« erhob sich, ihre Blik-ke flogen hierhin und dorthin, als suche sie einen Weg zur Flucht, dann sanken ihre Schultern resigniert herab.
Ein hochgewachsener Leibwächter des Großkönigs ging zu ihr, tippte der »Schwester« auf die Schulter und bedeutete »ihr«, sie solle vor die Richter treten. Langsam und widerwillig gehorchte »Schwester Necht«.
Kein Laut war zu hören, und alle Augen folgten der Gestalt, als sie langsam dorthin schritt, wo Fidelma sie erwartete. Die »Novizin« gab sich keine Mühe mehr, ihre männliche Haltung zu verbergen.
»Darf ich euch Nechtan vorstellen, den Sohn Illans von Osraige. Nechtan ist der ältere Bruder von Cetach und Cosrach.«
»Schwester Necht« straffte »ihre« Schultern und schob trotzig »ihr« Kinn vor, als »sie« vor Fidelma stand.
»Würdest du bitte deine Kopfbedeckung abnehmen?« sagte Barran.
»Schwester Necht« riß sich die Kopfbedeckung herunter.
»Das Haar ist kupferfarben, fast rot«, gab Forbassach in quengeligem Ton zu. »Aber diese ... diese Person ... sieht immer noch wie ein Mädchen aus.«
»Müssen wir diese Komödie noch weiterspielen, Nechtan?« fragte Fidelma. »Sag die Wahrheit.«
»Es ist alles vorbei, mein Junge«, rief Midach traurig und ohne Hoffnung. »Gestehen wir die Wahrheit ein.«
Der Junge mit dem kupferroten Haar starrte Fidelma mit beinahe haßerfülltem Blick an.
»Ja, ich bin Nechtan, der Sohn Illans«, verkündete er stolz.
»Es war alles meine Idee«, beeilte sich Midach zu erklären. »Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte. Ich wußte, daß Scandlan und seine Familie nach Illans Erben suchten. Ich kannte Illans Testament natürlich. Die Jungen waren in meine Obhut gegeben worden, und die jüngeren sollten nach Sceilig Mhichil gehen. Ich glaubte, dort wären sie sicher. Doch ich wußte nicht, wo ich Nechtan verstecken sollte. Aber dann kam mir der Gedanke, er könne sich, als Novizin verkleidet, in der Abtei verbergen und so könne ich ihn stets im Auge behalten. Wer die Erben Illans suchte, der suchte nach seinen Söhnen und nicht nach einem Mädchen.«
»Nechtan war zwar gerade siebzehn geworden, doch mit seiner dunklen Stimme und schlanken Gestalt verwandelte er sich nun in eine junge Frau«, ergänzte Fidelma. »Mit einer Farbe aus Holunderbeeren ließen sich Lippen und Wangen röten, und aus Nech-tan wurde Schwester Necht.«
»Anfangs nahm ich an, Dacan handle im Auftrag von Scandlan«, fuhr Midach fort. »Als ich entdeckte, daß er Illans Testament entziffert hatte, verließ ich sofort die Abtei, um die Jungen von der Insel wegzuholen, bevor man sie dort aufspürte. Ich brachte sie zurück und gab sie Schwester Eisten mit nach Rae na Scrine. Erst nach meiner Rückkehr in die Abtei erfuhr ich, daß Dacan umgebracht worden war.«
»Und wann gestand dir Nechtan, daß er es getan hatte?« fragte ihn Fidelma.
»Am nächsten .« Midach biß sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Nechtan starrte schweigend vor sich hin und zeigte keinerlei Bewegung.
Der Oberrichter beugte sich vor.
»Warum hat der Junge Dacan getötet?« fragte Bar-ran. »Diesen Punkt wollen wir endlich geklärt haben.«
»Schwester Necht oder vielmehr Nechtan tötete Dacan aus Furcht«, antwortete Fidelma. »Bevor Mi-dach nach Sceilig Mhichil abfuhr, hatte er ihm erzählt, daß er glaube, Dacan arbeite für seine Feinde. Necht haßte Dacan bereits wegen seines selbstherrlichen, rücksichtslosen Wesens. Es fehlte nur noch ein Funke. Wenige Stunden, nachdem Midach abgereist war, um seine Brüder zu retten, erstach Nechtan Dacan. Ich glaube nicht, daß er die Tat vorsätzlich beging. Erst nachdem sie geschehen war, versuchte Nechtan sie so darzustellen, als sei sie mit Vorbedacht verübt worden.«
»Wie meinst du das?« fragte Barran.
»Nechtan brachte Dacan um und versuchte später, eine Spur zu einer anderen Person zu legen, damit man dieser Person die Schuld gebe.«
»Und wie tat er das?«
»Nachdem Midach die Abtei verlassen hatte, wurde Nechtan in Dacans Zimmer gerufen und sollte ihm Wasser bringen. Vielleicht gab es einen Wortwechsel. Nechtan zog ein Messer und versetzte dem alten Mann im Zorn eine Reihe von Stichen.«